(siehe voriger Post)
Die Nachricht
von Markus, unter Verwendung der Wörter Wunde, Finca, Zuspruch, schwitzen, flüstern, pflegen, Giftphiole, Schreibmaschine, Dr. Quinteros, Zeit 90 min
„Was ist so besonders an diesem Tag?“, fragte sich der
Postbote, als er mit seinem Mofa gegen 10 Uhr morgens durch den stillen Vorort
fuhr, die Tasche mit Briefen und ausländischen Zeitungen auf dem Gepäckträger.
Der Himmel war verhangen, die Wolken lagen schwer über der Stadt und so dicht
wie lange nicht. Ab und zu sah er ein Hausmädchen mit einem Wäschekorb über die
Straße gehen oder einen Gärtner eine Hecke beschneiden.
Das Besondere an diesem Tag waren seine Briefe. Dieser Verdacht war seit seinem
Dienstbeginn in ihm gewachsen wie eine kleine giftige Pflanze. Seinen ersten
Brief hatte er in die weiße Hand einer jungen Señora gelegt (das Hausmädchen
war nicht da), und er fing, als er auf das Trinkgeld wartete, zu schwitzen an.
Die Señora
kam lange nicht wieder. Als sie mit einer Münze zurückkam, wünschte er sich,
nicht darauf gewartet zu haben.
Seinen besorgten Blick erwidernd flüsterte sie, dass alles in Ordnung sei. Was
hätte sie auch sagen sollen zu dem Briefträger, den diese Nachricht, so
schlecht sie auch sein mochte, nichts anging? Beunruhigt stieg er auf sein
Mofa.
Den nächsten Brief in dem Villenvorort gab er dem Hausmädchen, das er schon
kannte und das ihm mitteilte, dass der Señor auf der Finca sei. Sie schaute ihn
dabei so ratlos an, dass er unwillkürlich fragen musste: „Ja, und? Sonst alles
in Ordnung?“ „Naja“, sagte das Mädchen, „der Señor wollte eigentlich schon
vorgestern zurückgekommen sein.“ Er suchte noch nach einem passenden Zuspruch.
Sicher würde er ihr nicht sagen, dass er an diesem Tag ein komisches Gefühl
habe. „Mach dir keine Sorgen!“, sagte er, stieg auf sein Mofa und merkte, dass
er sich Sorgen machte.
Am dritten Haus hörte er leise das Klappern einer Schreibmaschine, das
verstummte, als er geklingelt hatte. Er besah sich den Brief, nichts
Außergewöhnliches war an ihm zu entdecken. Die Absenderin war eine Frau. Der
Herr öffnete selbst, nahm mit ernstem Gesicht den Brief, reichte ihm einen
Schein und verschwand. War es Neugier oder eine leichte Befürchtung, die den
Briefträger noch etwas länger stehenbleiben ließ? War es Einbildung, dass er
hinter der Tür einen leisen, unterdrückten Schrei zu hören glaubte?
Um 10.30 Uhr pflegte er eine kleine Pause zu machen in Julios Café. Julio
selbst war nicht da, seine Angestellte war an diesem Tag sehr schweigsam. Als
sie ihm den Kaffee brachte, sah er eine Wunde an ihrer rechten Hand, die ein
Pflaster nur zum Teil verdeckte. Er hatte keine Lust, sie danach zu fragen, zu
viele traurige Gedanken und Ahnungen beschäftigten ihn.
Sein vorerst letzter Brief – er hatte noch mehr in seiner Tasche, aber würde an
diesem besonderen Tag keinen weiteren austragen – war an Dr. Quinteros
adressiert. Der Brief war mit dem Hinweis „Vorsicht Glas!“ versehen; er
enthielt einen dünnen, harten Gegenstand, wie ein Stift, aber fester.
Dr. Quinteros selbst öffnete die Tür und bat ihn herein, weil er selbst noch
einen Brief hätte, der er gleich mitnehmen könne.
Im Haus roch es eigenartig. Er wusste, dass der Doktor mit Chemikalien
experimentierte, er hatte schon vorher Päckchen mit „Vorsicht Glas!“ an ihn
ausgeliefert. Ihm wurde schwindelig, er setzte sich auf eine Bank und schloss
die Augen.
Er sah Dr. Quinteros vor ihm, wie er den kleinen Glasbehälter herausholte und
hörte ihn sagen: „Nur Sie und ich wissen von dieser Giftphiole. Als er ihn die
Phiole öffnen sah, hörte er sich schreien: „Nein, Doktor, das ist ein
besonderer Tag, ein besonders furchtbarer Tag!“ Vor ihm tauchte der Mann mit
der Schreibmaschine auf und hörte ihn sagen: „Ich schreibe jetzt ihr Testament
auf“. Und er sah den Señor, der offenbar von seiner Finca zurückgekehrt war und
hörte ihn sagen: „Warum haben Sie mein Hausmädchen nicht getröstet? Sie wissen
doch, was für ein besonders furchtbarer Tag heute ist!“ Und dann kam auch noch
die Señora herein, kam ihm ganz nah und er sah ihr vor Entsetzen verzerrtes
Gesicht. „Helfen Sie mir“, stöhnte sie. Er wollte aufstehen und sie stützen,
konnte aber nicht.
Als er aufwachte, sah er das freundlich-besorgte Gesicht des
Doktors über sich. „Sie hatten einen kleinen Ohnmachtsanfall, trinken sie doch
bitte diesen Tee, dann wird es Ihnen besser gehen. Mein Chauffeur bringt sie
nach Hause, das Mofa holen Sie morgen ab.“
„Ja“, hörte er sich sagen, „das ist ein besonderer Tag. Ein
besonders…“.
„Ein besonders schöner Tag“, unterbrach ihn der Doktor. „Ich habe
gerade durch diesen Brief erfahren, dass meinem Sohn, der Chemiker ist, eine
große Entdeckung gelungen ist. In dieser Phiole ist eine Lösung, die viele
Menschen von ihrer Krankheit heilen kann. Und Sie haben mir diese Nachricht
überbracht.“
Die Nachricht
von Katrin unter Verwendung der Wörter Wunde, Finca, Zuspruch, schwitzen, flüstern, pflegen, Giftphiole, Schreibmaschine, Dr. Quinteros, Zeit 90 min
San Andres Semetabaj,
25. April 1987
Dr. Sebastián Quinteros stieg an einem
Aprilabend die Treppen in sein Haus hinauf. Er war 92 Jahre alt und er wohnte in einem großen, alten Haus auf dem
höchsten Punkt einer Finca, wo alles wuchs, was es in der Gegend gab: Kaffee,
Erdbeeren, Papaya und Bananen. Man konnte von hier oben über den gesamten
Atitlán-See schauen, auf die Vulkane Tolimán, Atitlán und San Pedro und den
kleinen Cerro de Oro. Auf seinem Rücken trug Sebastian eine riesige
Bananenstaude. Im Esszimmer angelangt, ließ er sie sehr langsam von seinem Rücken auf den großen
Tisch gleiten. Für einen Moment zögerte er sich aufzurichten. Zwar war er froh,
die Last losgeworden zu sein, doch es kam ihm vor, als würde etwas in ihm
kaputt gehen, wenn er sich jetzt zu schnell bewegte.
Seine Vorsicht hatte auch etwas mit Juanita zu tun, seiner
Hausangestellten, die schon lange nicht mehr fröhlich zu lachen pflegte, wenn
sie ihn so hereinkommen sah. Eine kurze Zeit lang hatte sie ihn ausgeschimpft.
Doch seit er in der letzten Regenzeit einmal verwundet humpelnd, schwitzend und
verdreckt seine Bananen hereingetragen hatte, hörte sie auch damit auf. Sie
schaute jetzt einfach weg oder verließ das Zimmer, wobei sie die Tür nie leise
schloss. Ja, er vermutete sogar, dass sie absichtlich seine Bananen liegen und
verderben ließ. Sebastián war ja nicht dumm. Er war sogar Arzt. In seinem Kopf
befand sich eine Landkarte des menschlichen Körpers, in die er alle Fälle
seines langen Arbeitslebens eingetragen hatte. Aber ach, trotzdem konnte er keine
reife Staude hängen lassen, wenn er an ihr vorbeiritt. Sollte die Alte doch
damit tun, was sie wollte. Bald würde Jacobo aus der Stadt kommen und wenn er
vom Weg nichts mitbrächte, würde sie zum Abendessen doch seine Bananen nehmen.
Er fühlte sich jetzt wieder freier sich zu bewegen. Er
schüttelte Arme und Beine. Keine Schmerzen. Sein Blick streifte das Porträt von Maria. Er suchte
er es in letzter Zeit öfter. Als könnte es ihm sagen, warum sie nicht schrieb. Maria
zwischen Bananenstauden. Seit 60 Jahren stand es dort. Er nahm es in die Hand
und setzte sich an den Tisch. Er war damals noch ein junger Arzt, das muss 1926
gewesen sein. Eines Morgens war er
in den Bergen unterwegs gewesen und hatte etwas Kleines, Gebücktes um einen
Baum laufen sehen. Als er näher gekommen
war, hatte sich das Wesen auf plötzlich aufgerichtet, ihm in die Augen geblickt
und gefragt: „Ist es ein Geschwür, eine verholzte Blüte oder haben das Menschen
gemacht?“ Eine Frau, um die dreißig Jahre wohl, ihre Haare waren blond, ihre
Augen hell, und ihre Aussprache war ungewöhnlich. Mit einem Hieb der Machete
schlug er auf den Baum und gab ihr den kleinen Ast
in Form einer Blüte. „Niemand weiß, wie das entsteht. Finden Sie es heraus.“,
sagte er. Sie setzten sich und Maria erzählte ihm, dass sie vor einige Jahren nach Guatemala gekommen war, um auf einer Finca am Pazifik die Kinder einer deutschen Familie zu unterrichten. Ein Jahr später
besuchte sie die Freundin am Atitlán-See im Jahr noch einmal, als er das
Foto mit den Bananen von ihr machte. Ein paar Wochen später hörte er, sie hätte
Malaria bekommen und wäre nach Deutschland zurückgeschickt worden. Er war
traurig, denn er befürchtete, nie mehr etwas von der kleinen, hellen Frau zu erfahren.
Dann erhielt er eines Tages einen Brief aus Dresden, von Maria und dem
Artikel aus einer Zeitschrift, in dem sie das Geheimnis der Holzblüte
beschrieb. Bald darauf schickte sie ihm jeden Monat einen Brief. Und jedes Jahr
einen Weihnachtsstollen. 60 Stollen. Den letzten hatten sie gerade aufgegessen,
aber im neuen Jahr war noch kein Brief angekommen. Sebastián drehte sich zum Fenster
um zu schauen, ob sich Jacobo näherte, der Enkel der Haushälterin, den er heute
Morgen nach Panajachel hinunter geschickt hatte. Doch er fühlte sich auf einmal
zu müde um aufzustehen.
Jacobo hatte währenddessen den Anstieg von Panajachel zur Finca hinter sich gelassen und schaute
sich ebenfalls nach einer reifen Bananenstaude um. Er hatte es nicht eilig nach
Hause zu kommen. Stattdessen wünschte er, einen klaren Gedanken fassen zu
können. Er hatte einen Brief aus Dresden für Sebastián dabei. Von den hunderten
von Briefen – wie viele hatte er, Jacobo, für den Doktor abgeholt? Die letzten
200 gewiss. Immer derselbe Luftpostumschlag, meist eine Blumenbriefmarke, alle
in Marias runder, enger Handschrift beschrieben. Der Brief wurde einmal laut
gelesen und danach in die große Truhe in der Sala gelegt. Er war noch ein Kind,
als er anfing auf sie zu warten, Woche für Woche. Manchmal war er nachts
aufgestanden und heimlich in die Sala gegangen, um den neuen Brief zu öffnen,
das Papier zu spüren, seinen Geruch zu atmen oder mit dem Finger im Mondlicht
die Spuren der Tinte auf dem Papier nachzufahren.
Dass mit diesem Brief, auf den sie jetzt schon so lange
warteten, etwas nicht stimmte, hatte er schon am Gesicht der Angestellten abgelesen,
als er die Tür zur Post öffnete. Manchmal waren Dinge so deutlich. Sie legte ihn vor ihm
auf den Tresen und beide sahen: Luftpostumschlag, Blumenbriefmarke, Dresdner
Poststempel. Maschinenschrift. Für
einen Moment, eine winzige Sekunde, dachte er, Maria hätte sich vielleicht die rechte
Hand verstaucht und mit der linken auf der Schreibmaschine geschrieben. Und
dann blickte er noch einmal hinauf und sah: Der Strich auf dem á von Sebastián
fehlte. Er wollte den Brief umdrehen, doch die Postfrau sagte nur: „Kein
Absender.“ Und: „Es musste doch mal passieren, Jacobo, sie war doch noch älter als Dr. Quinteros!“
Und nach einer Pause: „Braucht er Zuspruch? Soll vielleicht einer mit
hochkommen?“
„Ach, was denken Sie denn immer gleich…!“ es sollte empört klingen aber es kam
nur ein Flüstern heraus. Da sparte Jacobo sich den Rest. „Hasta luego, mi
hijo.“, rief sie ihm hinterher.
Das ganze Dorf schien ihm nachzublicken, als er von
Panajachel den Bergweg einschlug. Er fühlte sich elend. Der Doktor hatte ihm
mal erzählt, dass vor langer, langer Zeit der Bote schlechter Nachrichten aus
einer Giftphiole trinken musste. Er seufzte. Auf einmal schien ihm das kein
schlechter Gedanke zu sein. Bald stand er vor dem Haus. Er wollte sich am Fenster
vorbeischleichen, er durfte den Doktor nicht treffen sondern musste zuerst mit seiner
Großmutter Juanita sprechen. Doch da spürte er schon einen Blick auf sich.
Sebastián saß am Fenster und schaute ihn an, er schaute ihm direkt in die
Augen. Jacobo blieb stehen und öffnete die Tasche.
Er hatte viel erledigt im
Ort, die Tasche war voller Bestellzettel, Rechnungen, Zeitungen. Gleich würde
Dr. Quinteros ungeduldig gegen das Fenster trommeln. Da unten, die blauroten Linien der
Luftpost, gerade noch rechtzeitig sah er sie am Taschenboden. Er wusste noch
nicht, mit welcher Geste er den Brief hochhalten sollte, den Brief aus Dresden, der nicht
von einer alten Frau kommen konnte, wären auch noch so viele Blumenbriefmarken
darauf.
Doch Sebastián trommelte nicht. Er schaute ihn auch nicht an, denn sein
Blick war starr und ohne Leben. Er hörte Juanita auf der Treppe weinen. Irgendjemand unten in Panajachel läutete die Glocken.
Nachtrag: Maria ist von einer realen Person inspiriert. Die 600 Briefe aber sind leider nur ausgedacht, wie auch Dr. Quinteros.