Freitag, 10. Februar 2012

Silvestergeschichten


(siehe voriger Post)

Die Nachricht
von Markus, unter Verwendung der Wörter Wunde, Finca, Zuspruch, schwitzen, flüstern, pflegen, Giftphiole, Schreibmaschine, Dr. Quinteros, Zeit 90 min

„Was ist so besonders an diesem Tag?“, fragte sich der Postbote, als er mit seinem Mofa gegen 10 Uhr morgens durch den stillen Vorort fuhr, die Tasche mit Briefen und ausländischen Zeitungen auf dem Gepäckträger. Der Himmel war verhangen, die Wolken lagen schwer über der Stadt und so dicht wie lange nicht. Ab und zu sah er ein Hausmädchen mit einem Wäschekorb über die Straße gehen oder einen Gärtner eine Hecke beschneiden.
Das Besondere an diesem Tag waren seine Briefe. Dieser Verdacht war seit seinem Dienstbeginn in ihm gewachsen wie eine kleine giftige Pflanze. Seinen ersten Brief hatte er in die weiße Hand einer jungen Señora gelegt (das Hausmädchen war nicht da), und er fing, als er auf das Trinkgeld wartete, zu schwitzen an. Die Señora kam lange nicht wieder. Als sie mit einer Münze zurückkam, wünschte er sich, nicht darauf gewartet zu haben.
Seinen besorgten Blick erwidernd flüsterte sie, dass alles in Ordnung sei. Was hätte sie auch sagen sollen zu dem Briefträger, den diese Nachricht, so schlecht sie auch sein mochte, nichts anging? Beunruhigt stieg er auf sein Mofa.
Den nächsten Brief in dem Villenvorort gab er dem Hausmädchen, das er schon kannte und das ihm mitteilte, dass der Señor auf der Finca sei. Sie schaute ihn dabei so ratlos an, dass er unwillkürlich fragen musste: „Ja, und? Sonst alles in Ordnung?“ „Naja“, sagte das Mädchen, „der Señor wollte eigentlich schon vorgestern zurückgekommen sein.“ Er suchte noch nach einem passenden Zuspruch. Sicher würde er ihr nicht sagen, dass er an diesem Tag ein komisches Gefühl habe. „Mach dir keine Sorgen!“, sagte er, stieg auf sein Mofa und merkte, dass er sich Sorgen machte.
Am dritten Haus hörte er leise das Klappern einer Schreibmaschine, das verstummte, als er geklingelt hatte. Er besah sich den Brief, nichts Außergewöhnliches war an ihm zu entdecken. Die Absenderin war eine Frau. Der Herr öffnete selbst, nahm mit ernstem Gesicht den Brief, reichte ihm einen Schein und verschwand. War es Neugier oder eine leichte Befürchtung, die den Briefträger noch etwas länger stehenbleiben ließ? War es Einbildung, dass er hinter der Tür einen leisen, unterdrückten Schrei zu hören glaubte?
Um 10.30 Uhr pflegte er eine kleine Pause zu machen in Julios Café. Julio selbst war nicht da, seine Angestellte war an diesem Tag sehr schweigsam. Als sie ihm den Kaffee brachte, sah er eine Wunde an ihrer rechten Hand, die ein Pflaster nur zum Teil verdeckte. Er hatte keine Lust, sie danach zu fragen, zu viele traurige Gedanken und Ahnungen beschäftigten ihn.
Sein vorerst letzter Brief – er hatte noch mehr in seiner Tasche, aber würde an diesem besonderen Tag keinen weiteren austragen – war an Dr. Quinteros adressiert. Der Brief war mit dem Hinweis „Vorsicht Glas!“ versehen; er enthielt einen dünnen, harten Gegenstand, wie ein Stift, aber fester.
Dr. Quinteros selbst öffnete die Tür und bat ihn herein, weil er selbst noch einen Brief hätte, der er gleich mitnehmen könne.
Im Haus roch es eigenartig. Er wusste, dass der Doktor mit Chemikalien experimentierte, er hatte schon vorher Päckchen mit „Vorsicht Glas!“ an ihn ausgeliefert. Ihm wurde schwindelig, er setzte sich auf eine Bank und schloss die Augen.
Er sah Dr. Quinteros vor ihm, wie er den kleinen Glasbehälter herausholte und hörte ihn sagen: „Nur Sie und ich wissen von dieser Giftphiole. Als er ihn die Phiole öffnen sah, hörte er sich schreien: „Nein, Doktor, das ist ein besonderer Tag, ein besonders furchtbarer Tag!“ Vor ihm tauchte der Mann mit der Schreibmaschine auf und hörte ihn sagen: „Ich schreibe jetzt ihr Testament auf“. Und er sah den Señor, der offenbar von seiner Finca zurückgekehrt war und hörte ihn sagen: „Warum haben Sie mein Hausmädchen nicht getröstet? Sie wissen doch, was für ein besonders furchtbarer Tag heute ist!“ Und dann kam auch noch die Señora herein, kam ihm ganz nah und er sah ihr vor Entsetzen verzerrtes Gesicht. „Helfen Sie mir“, stöhnte sie. Er wollte aufstehen und sie stützen, konnte aber nicht.
Als er aufwachte, sah er das freundlich-besorgte Gesicht des Doktors über sich. „Sie hatten einen kleinen Ohnmachtsanfall, trinken sie doch bitte diesen Tee, dann wird es Ihnen besser gehen. Mein Chauffeur bringt sie nach Hause, das Mofa holen Sie morgen ab.“
„Ja“, hörte er sich sagen, „das ist ein besonderer Tag. Ein besonders…“.
„Ein besonders schöner Tag“, unterbrach ihn der Doktor. „Ich habe gerade durch diesen Brief erfahren, dass meinem Sohn, der Chemiker ist, eine große Entdeckung gelungen ist. In dieser Phiole ist eine Lösung, die viele Menschen von ihrer Krankheit heilen kann. Und Sie haben mir diese Nachricht überbracht.“ 



Die Nachricht
von Katrin unter Verwendung der Wörter Wunde, Finca, Zuspruch, schwitzen, flüstern, pflegen, Giftphiole, Schreibmaschine, Dr. Quinteros, Zeit 90 min
San Andres Semetabaj, 25. April 1987
Dr. Sebastián Quinteros stieg an einem Aprilabend die Treppen in sein Haus hinauf. Er war 92 Jahre alt und er wohnte in einem großen, alten Haus auf dem höchsten Punkt einer Finca, wo alles wuchs, was es in der Gegend gab: Kaffee, Erdbeeren, Papaya und Bananen. Man konnte von hier oben über den gesamten Atitlán-See schauen, auf die Vulkane Tolimán, Atitlán und San Pedro und den kleinen Cerro de Oro. Auf seinem Rücken trug Sebastian eine riesige Bananenstaude. Im Esszimmer angelangt, ließ er sie  sehr langsam von seinem Rücken auf den großen Tisch gleiten. Für einen Moment zögerte er sich aufzurichten. Zwar war er froh, die Last losgeworden zu sein, doch es kam ihm vor, als würde etwas in ihm kaputt gehen, wenn er sich jetzt zu schnell bewegte.
Seine Vorsicht hatte auch etwas mit Juanita zu tun, seiner Hausangestellten, die schon lange nicht mehr fröhlich zu lachen pflegte, wenn sie ihn so hereinkommen sah. Eine kurze Zeit lang hatte sie ihn ausgeschimpft. Doch seit er in der letzten Regenzeit einmal verwundet humpelnd, schwitzend und verdreckt seine Bananen hereingetragen hatte, hörte sie auch damit auf. Sie schaute jetzt einfach weg oder verließ das Zimmer, wobei sie die Tür nie leise schloss. Ja, er vermutete sogar, dass sie absichtlich seine Bananen liegen und verderben ließ. Sebastián war ja nicht dumm. Er war sogar Arzt. In seinem Kopf befand sich eine Landkarte des menschlichen Körpers, in die er alle Fälle seines langen Arbeitslebens eingetragen hatte. Aber ach, trotzdem konnte er keine reife Staude hängen lassen, wenn er an ihr vorbeiritt. Sollte die Alte doch damit tun, was sie wollte. Bald würde Jacobo aus der Stadt kommen und wenn er vom Weg nichts mitbrächte, würde sie zum Abendessen doch seine Bananen nehmen.

Er fühlte sich jetzt wieder freier sich zu bewegen. Er schüttelte Arme und Beine. Keine Schmerzen. Sein Blick streifte das Porträt von Maria. Er suchte er es in letzter Zeit öfter. Als könnte es ihm sagen, warum sie nicht schrieb. Maria zwischen Bananenstauden. Seit 60 Jahren stand es dort. Er nahm es in die Hand und setzte sich an den Tisch. Er war damals noch ein junger Arzt, das muss 1926 gewesen sein. Eines Morgens war er in den Bergen unterwegs gewesen und hatte etwas Kleines, Gebücktes um einen Baum laufen sehen. Als er näher gekommen war, hatte sich das Wesen auf plötzlich aufgerichtet, ihm in die Augen geblickt und gefragt: „Ist es ein Geschwür, eine verholzte Blüte oder haben das Menschen gemacht?“ Eine Frau, um die dreißig Jahre wohl, ihre Haare waren blond, ihre Augen hell, und ihre Aussprache war ungewöhnlich. Mit einem Hieb der Machete schlug er auf den Baum und gab ihr den kleinen Ast in Form einer Blüte. „Niemand weiß, wie das entsteht. Finden Sie es heraus.“, sagte er. Sie setzten sich und Maria erzählte ihm, dass sie vor einige Jahren nach Guatemala gekommen war, um auf einer Finca am Pazifik die Kinder einer deutschen Familie zu unterrichten. Ein Jahr später besuchte sie die Freundin am Atitlán-See im Jahr noch einmal, als er das Foto mit den Bananen von ihr machte. Ein paar Wochen später hörte er, sie hätte Malaria bekommen und wäre nach Deutschland zurückgeschickt worden. Er war traurig, denn er befürchtete, nie mehr etwas von der kleinen, hellen Frau zu erfahren. 

Dann erhielt er eines Tages einen Brief aus Dresden, von Maria und dem Artikel aus einer Zeitschrift, in dem sie das Geheimnis der Holzblüte beschrieb. Bald darauf schickte sie ihm jeden Monat einen Brief. Und jedes Jahr einen Weihnachtsstollen. 60 Stollen. Den letzten hatten sie gerade aufgegessen, aber im neuen Jahr war noch kein Brief angekommen. Sebastián drehte sich zum Fenster um zu schauen, ob sich Jacobo näherte, der Enkel der Haushälterin, den er heute Morgen nach Panajachel hinunter geschickt hatte. Doch er fühlte sich auf einmal zu müde um aufzustehen. 

Jacobo hatte währenddessen den Anstieg von Panajachel  zur Finca hinter sich gelassen und schaute sich ebenfalls nach einer reifen Bananenstaude um. Er hatte es nicht eilig nach Hause zu kommen. Stattdessen wünschte er, einen klaren Gedanken fassen zu können. Er hatte einen Brief aus Dresden für Sebastián dabei. Von den hunderten von Briefen – wie viele hatte er, Jacobo, für den Doktor abgeholt? Die letzten 200 gewiss. Immer derselbe Luftpostumschlag, meist eine Blumenbriefmarke, alle in Marias runder, enger Handschrift beschrieben. Der Brief wurde einmal laut gelesen und danach in die große Truhe in der Sala gelegt. Er war noch ein Kind, als er anfing auf sie zu warten, Woche für Woche. Manchmal war er nachts aufgestanden und heimlich in die Sala gegangen, um den neuen Brief zu öffnen, das Papier zu spüren, seinen Geruch zu atmen oder mit dem Finger im Mondlicht die Spuren der Tinte auf dem Papier nachzufahren.

Dass mit diesem Brief, auf den sie jetzt schon so lange warteten, etwas nicht stimmte, hatte er schon am Gesicht der Angestellten abgelesen, als er die Tür zur Post öffnete. Manchmal waren Dinge so deutlich. Sie legte ihn vor ihm auf den Tresen und beide sahen: Luftpostumschlag, Blumenbriefmarke, Dresdner Poststempel. Maschinenschrift. Für einen Moment, eine winzige Sekunde, dachte er, Maria hätte sich vielleicht die rechte Hand verstaucht und mit der linken auf der Schreibmaschine geschrieben. Und dann blickte er noch einmal hinauf und sah: Der Strich auf dem á von Sebastián fehlte. Er wollte den Brief umdrehen, doch die Postfrau sagte nur: „Kein Absender.“  Und: „Es musste doch mal passieren, Jacobo, sie war doch noch älter als Dr. Quinteros!“ Und nach einer Pause: „Braucht er Zuspruch? Soll vielleicht einer mit hochkommen?“
„Ach, was denken Sie denn immer gleich…!“ es sollte empört klingen aber es kam nur ein Flüstern heraus. Da sparte Jacobo sich den Rest. „Hasta luego, mi hijo.“, rief sie ihm hinterher.

Das ganze Dorf schien ihm nachzublicken, als er von Panajachel den Bergweg einschlug. Er fühlte sich elend. Der Doktor hatte ihm mal erzählt, dass vor langer, langer Zeit der Bote schlechter Nachrichten aus einer Giftphiole trinken musste. Er seufzte. Auf einmal schien ihm das kein schlechter Gedanke zu sein. Bald stand er vor dem Haus. Er wollte sich am Fenster vorbeischleichen, er durfte den Doktor nicht treffen sondern musste zuerst mit seiner Großmutter Juanita sprechen. Doch da spürte er schon einen Blick auf sich. Sebastián saß am Fenster und schaute ihn an, er schaute ihm direkt in die Augen. Jacobo blieb stehen und öffnete die Tasche.
Er hatte viel erledigt im Ort, die Tasche war voller Bestellzettel, Rechnungen, Zeitungen. Gleich würde Dr. Quinteros ungeduldig gegen das Fenster trommeln. Da unten, die blauroten Linien der Luftpost, gerade noch rechtzeitig sah er sie am Taschenboden. Er wusste noch nicht, mit welcher Geste er den Brief hochhalten sollte, den Brief aus Dresden, der nicht von einer alten Frau kommen konnte, wären auch noch so viele Blumenbriefmarken darauf.

Doch Sebastián trommelte nicht. Er schaute ihn auch nicht an, denn sein Blick war starr und ohne Leben. Er hörte Juanita auf der Treppe weinen. Irgendjemand unten in Panajachel läutete die Glocken.


Nachtrag: Maria ist von einer realen Person inspiriert. Die 600 Briefe aber sind leider nur ausgedacht, wie auch Dr. Quinteros.