Zu Besuch bei der Hilfsorganisation
CAFNIMA am zentralen Müllplatz von Guatemala-Stadt
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Lilian |
Sie hat ihm aufmerksam zugehört, Christian Apontes
Assistentin. Manchmal springt sie ein, wenn ihm eine Zahl oder ein Name nicht
einfällt. „Seit wann dürfen Kinder nicht mehr mit auf den Müllplatz?“ „Seit
ungefähr acht Jahren.“
Manchmal
überlässt er ihr auch ganz das Erzählen, wenn es um „ihr Gebiet“ geht. Wir
sitzen in einem
kleinen Versammlungsraum
bei CAFNIMA, einer guatemaltekischen Hilfsorganisation. Lilian ist Anfang 20,
hat gerade ihren Bachillerato
gemacht und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfungen für die „U“ vor, der
staatlichen Universität San Carlos. Im Januar kommenden Jahres wird sie ein
Jurastudium beginnen.
Selbstbewusst berichtet sie von den
asentamientos,
den illegalen Wohnsiedlungen der Arbeiterfamilien des Müllplatzes und das Leben
der Familien dort. Sie hat große silberne Ringe in den Ohren, die schönen
dunklen Haare streng zu einem Zopf gebunden, die Nägel sind so sorgfältig
manikürt, wie man es von den Guatemaltekinnen eben kennt. Man hört ihr gerne
zu. Gleich werden wir aufbrechen um mit ihr zusammen die Fotos vom Müllplatz zu
machen. Wir nehmen den Weg über den höhergelegenen Friedhof, um einen Blick
über die Ausmaße des Basurero zu bekommen. Guatemala-Stadt liegt auf ungefähr
1500 Meter Höhe. Sie wird durchzogen von tiefen, bewaldeten Schluchten. Eine
dieser Schluchten wird seit 1956 nach und nach mit dem Müll der Städter
gefüllt. Die staatliche Müllhalde, östlich vom Stadtzentrum und durch ihre Lage
fast unsichtbar, ist Arbeitsplatz tausender Guajeros
,
Recycler. Menschen, die Müllsäcke öffnen, und deren Inhalte in Plastik- und
Glasmüll, Papier und Metalle trennen. Danach verkaufen sie ihn an die am
Müllplatz ansässigen Recyclingfirmen für ein Drittel des Marktwertes. Mithinausnehmen
dürfen sie ihn nicht.
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Beim Entladen der LKWs |
Gerade werden zwei neue LKWs entladen. Ungefähr 30 Menschen und 60
Zopilotes
stürzen
sich auf die herabfallenden schwarzen Säcke. Lilian erklärt uns mit viel Geduld
die Mechanismen und Verabredungen, die hier gelten.
„Waren Sie schon mal mit jemandem dort, der da arbeitet?“, frage ich sie. Sie
schaut mich an. Ernst, aber vielleicht auch ein kleines bisschen belustigt.
„Ich arbeite selber dort. Meine ganze Familie arbeitet auf dem Müllplatz. In
CAFNIMA bin ich nur zweimal pro Woche.“ Offenbar dachte sie, wir wüssten das.
Jetzt nichts Falsches sagen. „Können Sie ihre Familie von hier aus sehen?“
frage ich schnell und denke gleichzeitig, dass das bei so vielen Tausenden eine
idiotische Frage ist. „Ja, da drüben“, antwortet Lilian. „Da ist meine Mutter.
Weiße Jacke, weißes Baseballmütze. Daneben meine Schwester.“ Tatsächlich.
Ungefähr einen Kilometer von den Müllwagen entfernt, vor einer kargen Felswand sieht
man zuerst einen Sonnenschirm, darunter einen Klappsessel mit einer Frau drauf,
Lilians Schwester. Um diesen Klappsessel herum läuft ein ganz in Weiß
gekleidetes Wesen, ihre Mutter. „Warum sind sie so weit vom Müll entfernt?“
„Sie warten auf den LKW, der sie mitnimmt.“ Da
sind sie wieder, diese Verabredungen. Steigen sie auf einen anderen, laufen sie
Gefahr, von den anderen Guajeros geschlagen zu werden. Auch wenn die meisten
Guajeros der Meinung sind, einem normalen Job nachzugehen, kommen sie bei
diesen Arbeitsbedingungen im Monat gerade mal auf das Viertel eines anderen
schlechtbezahlten Jobs.
Plötzlich stehen wir vor einer schwarzen Rauchsäule.
„Methangas, an manchen Stellen wird es gesammelt und an eine Plastikfirma
geliefert.“ Wir fragen sie, ob es in ihrer Familie Krankheiten gäbe, die
typisch für den Müllplatz wären. Ja, besonders die Mutter, 46 Jahre alt, leidet
unter Atembeschwerden und einem Aussatz an der Hand. Lilian zeigt uns an ihrer
eigenen, gesunden und hübschen Hand, wo sich der Aussatz ihrer Mutter befindet.
Während ihres Studiums wird sie wohl auch noch hier arbeiten. Wenn sie erst
einmal Rechtsanwältin ist, will sie, dass ihre Familie sich eine andere Arbeit
sucht.
Ich wage noch eine Frage: „Sie haben doch vorhin erzählt,
dass Kinder erst seit acht Jahren nicht mehr auf den Müllplatz dürfen. Sie
waren also als Kind auf dem Müllplatz?“ Sie nickt. „Seit meinem neunten
Lebensmonat. Meine Mutter hat mich auf den Rücken geschnallt beim Recyceln. Sie
konnte nicht länger zuhause bleiben. Irgendwann habe ich selber mitgemacht.
Vormittags bin ich kurz in die Schule gegangen.“
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Der Friedhof neben dem Müllplatz |
Inzwischen sind wir wieder auf dem Rückweg. Wir finden die
Straße auf dem Friedhof, wo wir das Auto geparkt haben. Zum ersten Mal scheint
Lilian nicht mehr ganz sicher, was sie noch zu dem Thema sagen soll. Ich
bemerke: „Man hat ja gesehen, dass Leute auch manchmal warten müssen - auf den
richtigen Müllwagen zum Beispiel. Da haben sie ja bestimmt auch auf dem
Müllplatz gespielt und Unsinn gemacht, wie andere Kinder.“ „Ja, natürlich“,
sagt Lilian, wie aus einem Traum aufwachend. „Wir hatten manchmal auch Zeit zum
Spielen. Wie andere Kinder.“