Samstag, 10. September 2011

Der Tod und der Sänger


„Schreib mal schnell den Namen auf!“, seit Tagen waren wir an Plakaten vorbeigefahren, die ein Konzert ankündigten. Facundo Cabral, der Name sagte uns nichts, war auch schwer zu merken, aber der alte Mann sah gut aus. Zuhause, auf youtube, hörten wir ein Lied von ihm: No soy de aqui, no soy de allá, vom Anfang der 70er Jahre. Klang interessant, der Mann schien Kult zu sein, aber der Termin war ungünstig. Wir verschoben die Entscheidung, vergaßen es dann und hofften auf ein Konzert im nächsten Jahr.
Ich bin nicht von hier, ich bin nicht von dort. Ich habe kein Alter und keine Zukunft. Und Glücklichsein ist die Farbe meines Wesens.
Die Samstage beginnen bei uns meist so früh wie die Arbeitstage. Ophelia und Laurenz stehen kurz nach 6 auf und wollen irgendetwas essen. So auch am Samstag, den 9. Juli. Ich quäle mich aus dem Bett, mache Herzcornflakes (von Quaker) und öffne am Rechner die Titelseite der Tageszeitung, Prensa Libre.  Es ist 6:26. Während ich verschlafen auf den Ticker-Kasten starre, der meist mit Toten und Verunfallten der letzten Nacht und Informationen über die Juniorenfußballnationalmannschaft gefüllt ist, poppt eine neue Nachricht auf: „6:28 Facundo Cabral auf dem Weg zum Flughafen erschossen“.
Ich bin gerne der Freund der Diebe und liebe französische Lieder.
Die meisten guatemaltekischen Morde finden im Rahmen von Erpressungsversuchen in den ärmsten Stadtvierteln statt.  Das ist schrecklich, aber weit von unserer Realität entfernt.
Ist doch alles möglich?
Wenn ich die Zeitung im Internet lese, dann immer auch die Kommentare zu den schlechten Nachrichten, die stets voller Selbsthass sind: „Ja, so sind wir Guatemalteken.“  „Wir haben es nicht anders verdient.“  Nur wenige Minuten nach der Veröffentlichung der Meldung begann ein Menschenstrom zum Ort des Unfalls, wo das Auto mit dem Sänger noch stand. Manche hatten ihre Gitarren mitgebracht und sangen sein berühmtestes Lied.  Ein paar Händler, Bauern, Waschfrauen – Leute, die eben grad dastanden, sangen mit. Sie kannten den Text der Strophen nicht gut, schnappten aber immer irgendwelche Worte und Zeilen auf. Alle guatemaltekischen Fernsehkanäle waren vor Ort. Eine Frau saß auf der Straße und schrieb einen Brief. Man kam aus dem Heulen gar nicht mehr heraus.
Mir gefällt der Wein ebenso wie die Blumen. Mir gefallen die Liebenden, aber nicht die Herren.
Nachdem der erste Schock überwunden war, war die wichtigste Frage der Medien: „Wie steht Guatemala jetzt da?“ „Wir haben ihn getötet.“ „Überall wird man uns hassen.“  Der einzige Unterschied zu sonst aber war, dass dieser Tod absolut keinen Sinn hatte. Niemand konnte sich einen Reim drauf machen. Wer sollte davon profitieren?  Einen 74jährigen Alten zu töten? Aber hatte er nicht am Ende des letzten Konzerts gesagt: „Jetzt komme, was wolle. Gott weiß schon, was er tut“?
Es gefällt mir von Balkonen zu springen und Fenster zu öffnen. Und die Mädchen im April.
Am Ende machte doch alles Sinn. Wie sich herausstellte, war Facundo Cabral, anstatt auf sein eigenes Taxi zum Flughafen zu warten, spontan in das Auto seines nikaraguanischen Konzertveranstalters gestiegen, ein 40jähriger mit Nachtclubs in ganz Zentralamerika und einigen Feinden. Das war das Todesauto, lange geplant von einem von ihnen aus Costa Rica. Auf dem Weg zum Flughafen sollte er sterben. Aber der Konzertveranstalter überlebte schwerverletzt. Wer starb, war Facundo Cabral. Und Guatemala war für ein paar Stunden Gesprächsthema in der Welt.

Donnerstag, 8. September 2011

Zwischen Mittelalter und dreidimensionaler Werbung


Am Sonntag sind Wahlen
Manchmal erlaubt einem die Stadt Einblicke in die Vergangenheit und in die Zukunft. Während über die Plaza Central ein Hirtenjunge seine Ziegen treibt, ein anderer Eisblöcke abgereibt und den Schnee mit Sirup zu Wassereis verarbeitet, gibt es  in den Zonen südlich davon einige Neuerungen  im Straßenverkehr zu bestaunen, die man sich auch für Berlin wünscht. Die Ampel mit Zeitanzeige ist davon die beste. Anfangs erschien sie mir eher wie ein Spielzeug. Aber welch beruhigenden Einfluss sie auf das Gemüt des Autofahrers hat, habe ich erst mit der Zeit erfahren! Wäre ich in Berlin 200 Meter vor einer grünen Ampel würde ich in jedem Fall beschleunigen. Sie mag dann trotzdem vorher rot werden oder noch fünf Minuten grün bleiben.  Hier natürlich nur, wenn es sich lohnt. Auch kein Problem, wenn die Ampel rot ist! Anzeige: 47 Sekunden! Da kann man noch einen Schluck aus der Wasserflasche nehmen und das Handy in der Tasche suchen und den Stadtplan auf der richtigen Seite aufschlagen ohne zu befürchten, dass die Autos hinter einem anfangen zu hupen.

Die Oakland Mall, in die wir des Öfteren ins Kino gehen (und wo es ein Restaurant inmitten eines Aquariums gibt), hat eine mehretagige Tiefgarage. Nicht nur, dass es auf jeder Etage eine Anzeige gibt, wie viele freie Parkplätze dort sind, auch der Anfang jeder Parkreihe zeigt die Anzahl der darin befindlichen freien Parkplätze an.
Ins Fischrestaurant ohne Parkplatzprobleme
Außerdem hat jeder einzelne Parkplatz ein Lämpchen, das grün oder rot leuchtet, so dass man, wenn man in die Parkhausetage fährt, schon von weitem sieht, wo es sich lohnt, hinzusteuern.  Das gibt’s bestimmt auch in Berlin bald. Aber auf eine andere angenehme Verkehrsbeeinflussung werden wir in Berlin, wegen der Tarife im Öffentlichen Dienst, ewig warten müssen: Heere von miteinander verkabelten Verkehrspolizisten, die sich zu den Rush-Hours auf die Straßen stellen und bei Bedarf Vorfahrtsregeln ändern, Ampelphasen verlängern und sogar spontan die Spuranzahl mithilfe von Plastiktonnen erhöhen oder verringern um Knoten aufzulösen.

Das hilft, die irritierenden Dinge besser zu ertragen: Dass Blinken vor dem Spurwechsel nur einen vagen Wunsch ausdrückt, nur bloße Spielerei ist und nie dazu führen würde, dass die Autos auf der Nebenspur einen Raum öffnen. Wer unbedingt in die Nebenspur will, lässt das Fenster etwas herunter und wedelt mit der Hand, so als würde es den Blinker gar nicht geben. Deshalb blinkt auch niemand. (Die feineren Herrschaften wedeln natürlich nicht mit der Hand, die drängen einfach rüber in die andere Spur.)  Gerät man in einen Stau kann es passieren (ist aber noch nicht), dass ein junger Mann am Fenster klopft und um Herausgabe von Portmonnaie und Handy bittet. Das sollte man dann auch tun. Natürlich hat man für diesen Fall Sachen zum „abgeben“ im Auto, aber einen grässlichen Schrecken bekommt man trotzdem.

Ein unsinniger Trend, der bestimmt auch nach Berlin kommt, ist die dreidimensionale Werbung. Die große Tasse auf der Nespresso-Werbetafel dampft wirklich, das Johnny-Walker-Whiskyglas wird ständig geschüttelt, eine riesige Vinylschallplatte dreht sich ständig auf einer Pepsi-Werbung. Alle Werbeflächen scheinen mit Motoren verbunden zu sein – und das bei Energiepreisen wie in Berlin.
Den Jungen mit den Ziegen interessiert das nicht. Er ist aufgestanden, spricht mit dem Eisschaber, bekommt ein kleines Eis und geht langsam nach Hause.