Mittwoch, 4. Januar 2012

Ein langer Tag über den Wolken

Bericht von einer Wanderung in über 3.000 m Höhe, die in einem viel zu heißen Thermalbad endete.

In Guatemala ist man fast immer im Gebirge. Die Hauptstadt liegt 1.500 m hoch; die Fläche der Stadt ist durchzogen von zahlreichen Schluchten. Es ist also sachlich nicht richtig, zu sagen: wir fahren ins Gebirge. Aber Anfang Dezember fuhren wir  - rein gefühlsmäßig – doch in die Berge, nämlich nach Quetzaltenango, oder einfacher und volkstümlicher Xela (gesprochen: Schäla) genannt. Die zweitgrößte Stadt des Landes liegt auf etwa 2.500 m Höhe und ist von vielen hübschen Vulkanen und Bergen umgeben. Auf einen dieser Berge, den Pico Zunil wollte ich rauf, zusammen mit Mathilda. Im Reisebüro mit dem völlig zutreffenden Namen Adrelanintours fragte ich nach einem Bergführer und bekam mit dem Führer auch einen neuen Weg, der acht Stunden dauern und viel angenehmer als die bloße Besteigung des Pico Zunil sein sollte, weil dieser Weg hauptsächlich abwärts führe. Wenn es also um 6 Uhr losginge, wären wir Mittags im Thermalbad Las Georginas, ein erstrebenswertes Ziel. Also für morgen bestellt und bezahlt. Aber der Tourenberater hatte sich verschätzt: Am Ende kamen wir erst Abends abgekämpft am heißen Wasser an.
Morgens wartete Edwin am Hotel. Katrin fuhr uns mit dem Auto zum Cumbre de Alaska auf eine Höhe von ca. 3.000 m. Schon zu Beginn der Wanderung konnten wir auf eine dichte Wolkendecke herabsehen, die uns von der Stadt Xela trennte. Cumbre de Alaska sieht so aus, wie es klingt: Karg, kalt und trocken. Das Leben der Menschen an diesem Ort, wo der Wind ungehindert um die Häuser pfeift, muss hart sein. 
Vulkane von Antigua und Atitlan im Morgenlicht. Foto: Neuhaus
Es war 7.30 Uhr, als wir loswanderten, Mittags würden wir nicht am Ziel sein, sondern nach optimistischer Schätzung von Edwin etwa 15.30 Uhr. Wir sollten bald merken, dass alle Schätzungen Edwins optimistisch waren. Vor uns schlängelte sich eine Hügelkette in Richtung Pico Zunil, ihr Kamm wäre unser Weg. Gab es hier schon Überfälle?, frage ich unseren Bergführer. Nein, sagt er nachdenklich, aber er befürchte, dass die Gewalt aus der Hauptstadt sich irgendwann auch hierher ausbreiten und die wenigen Touristen vertreiben würde.
Der Weg über die Hügel ist etwas anstrengend, aber immer noch angenehm. Immer wieder geht es aufwärts und Edwin sagt dann gut gemeinte Sätze wie: Das ist jetzt der zweite von drei Anstiegen. Beim vermeintlich dritten sagt er: das ist jetzt der vorletzte. Und so geht das immer weiter. Er meint es gut.
Siete Cruces
Der Kamm des kleinen Gebirges heißt Siete Cruces, sieben Kreuze. Ab und zu treffen wir tatsächlich auf ein aus Stein gemeißeltes Kreuz. Sie laden zu sportlichen Kreuzwegandachten ein. Noch dazu sind wir Wanderer zwischen zwei Welten.  Wir gehen auf dem Monchon, der Grenze zwischen zwei Regionen, in denen (neben Spanisch) verschiedene Sprachen gesprochen werden: Im Norden die Region Quetzaltenango, wo man Quiché spricht, im Süden Solola mit der Sprache Tzutujil. Von hier oben, weil die Sicht gut ist, können wir noch mehr als diese beiden Regionen überblicken. Wir sehen im Süden nicht nur die Vulkane am Atitlánsee, sondern sogar neben andern den nahe der Hauptstadt gelegenen Vulkan Agua. Im Norden zeigt uns Edwin die Berge, die an der Grenze zu Mexiko sind. Es ist, als könnten wir von hier oben das ganze Land sehen. Ein Segelflug über die Berge kann kaum schöner sein.
Wie heißt der Ort unter uns? Das ist die geothermische Anlage, sagt Edwin. Hier wohnten früher auch Menschen, sie starben bei einer Explosion. Wie das? Die Anlage fördert große Mengen heißen Wassers. Ein Mann dreht jeden Abend den Hahn zu und macht ihn morgens wieder auf. Es geschah am Morgen nach einer heiligen Nacht vor einigen Jahren: Der Mann am Hahn hatte zu viel getrunken und am Weihnachtstag verschlafen. Zehn Familien kamen ums Leben. Was für ein bizarrer Widerspruch an dem Tag, wo die Welt die Geburt des Retters feiert! Wie leichtfertig hier menschliches Leben aufs Spiel gesetzt wurde.
Sehr müde Wanderer am Pico Zunil
Wir hatten den höchsten Punkt der Wanderung, nahe am Pico Zunil, erreicht, 3.425 m. Die Hälfte unserer Wanderung. Der Mittag war um eine halbe Stunde überschritten. Aber von hier aus, so Edwin, würde es nur noch bergab gehen, das würden wir in vier Stunden schaffen. 16.30 im Thermalbad, das war zwar viel später als erwartet, klang aber akzeptabel. Doch wir hatten uns kräftig getäuscht. Im Nachhinein wissen wir nicht mehr, ob diese Täuschung dadurch entstanden war, dass wir Edwin suggestiv gefragt hatten, ob wir es denn bis halb fünf schaffen würden, oder ob er von sich aus diese Zeiten ins Spiel gebracht hatte.
Je länger wir wanderten, je größer unserer Erschöpfung wurde, desto mehr bekamen wir zu hören, was wir hören wollten. Langsam tauchten wir abwärtssteigend in die Wolkendecke ein. Wir wanderten im Bergnebelwald. Die Vegetation veränderte sich. Der Wald wurde dichter. Immer mehr umgefallene Baumstämme kreuzten unseren Weg. Märchenhaft – der Nebel zwischen den Pinien und Tannen.
Erschöpfter werdend, fragten wir immer öfter nach der verbleibenden Wanderzeit. Ja, jetzt sind es noch höchstens drei Stunden. Noch drei Stunden?? Wir sind doch schon sieben Stunden unterwegs!! Ja, aber dann habt ihr es geschafft. Wir kletterten, gefühlt vertikal, einen steil abfallenden dicht wachsenden Bambuswald hinab. Während der Aufstieg Mathilda schwerer viel, hatte ich nun mehr Mühe; Abstiege gehen auf die Knie.
Nach zwei Stunden waren wir wieder horizontal unterwegs – in einem herrlichen Nadelwald. War Georginas Themalquelle nicht ganz in der Nähe? Ich wollte nicht mehr fragen. Aber es gab nichts, wo nach wir uns mehr sehnten als nach Bestätigung, dass das Thermalbad ganz nahe war, höchstens eine Stunde entfernt.
Ich bat Mathilda zu fragen. Fröhlich und wie nebenbei erklärte Edwin, dass jetzt das letzte Stück Weg beginnen würde, noch etwa zwei Stunden. Zwei Stunden? Nach unserer Rechnung dürfte es nur noch eine Stunde sein. Das Vertrauen in unseren Führer war gestört. Irgendwie waren wir zutiefst erschöpft. Diese Erschöpfung war natürlich körperlich. Aber wir empfanden sie vor allem als seelische Erschöpfung durch zu viele falsche Zeitangaben.
Etwas zu heiß: Fuentes Georginas
Doch diese letzte Zeitangabe war richtig. Nach zwei Stunden, 18.30 Uhr, 11 Stunden seit unserem Start im kargen Cumbre de Alaska, erreichten wir das Thermalbad, schon einige hundert Meter früher angekündigt durch die lauten Stimmen von Laurenz und Ophelia, die mit Katrin bereits seit Mittag dort auf uns warteten.
Das Thermalwasser war zum Baden zu heiß. Es ergoss sich kaskadenhaft von einem Becken in zwei weitere. Das Wasser im ersten, dem größten Becken war ideal zur Bereitung von grünem Tee (nicht ganz kochend!). Im zweiten konnte man es etwa fünf Minuten aushalten, bevor die Haut sich ablöste. Im dritten, dem kleinsten Becken, konnten wir eine Weile ruhig hocken. Und genau das war es, was wir, Mathilda und ich, einzig und allein tun konnten: eine Stunde lang in und außerhalb des Wassers ruhig zu hocken. Man nimmt hier das Wasser wie es kommt. Man nimmt die Dinge, wie sie kommen.