Freitag, 29. Juli 2011

Einen Lutherkeks für den Bischof

Drei Juni-Tage in San Salvador

1

Der Weg ist neu, darum fahren hier so wenig Autos, sagt unsere Begleiterin. Wir fahren in zwei PKWs bergan, wo der Stadtrand einen schönen Blick zum Meer zulässt. Vier Erwachsene, drei Kinder. Wir haben überlegt, wie unsere Kinder auf den Ort reagieren würden: auf die schwerstbehinderten Kinder im Alter von Laurenz, Ophelia und Mathilda: was würden diese in jenen an Ebenbürtigem wiedererkennen können? Da, ein Schild, es steht in Richtung entgegengesetzte Spur, alte Straße, wir fahren vorbei, bremsen, drehen uns um: Zum Hogar Padre Vito Guarato, das ist es. Der Wächter lässt uns hinein.

Erster Eindruck: Ein Ort der Ruhe und der Ordnung. Eine kreisförmige Anlage, hellgelb verputzte Häuser versammeln sich um eine Kapelle. Eine Ordensschwester, vielleicht die Oberin, empfängt uns. Es ist so still. Wo sind die Kinder? Draußen beim Abendbrot. Wir folgen der Schwester, aus einem Fenster kommt ein starker Geruch von Fäkalien – welcher Bewohner kann eigentlich allein zur Toilette gehen? Später werden wir wissen: Fast keiner. Draußen herrscht unter einem Wellblechdach munteres Treiben.

Große und kleine Kinder, sitzen, zumeist in Rollstühlen, an Tischen. Was heißt hier: Kinder? Die Grenze zum Erwachsensein ist ins fast Unendliche verschoben, sie ist aufgehoben, in beide Richtungen offen: Viele sind zu alt, um wie Kinder auszusehen und zu wenig entwickelt, um als Erwachsene zu gelten. Und was heißt essen? Für viele hier eine große innere Anstrengung, die nicht ohne äußere Hilfe vor sich geht. Große Menschen mit Kleinkindmanieren werden hier gefüttert. Manche müssen warten, es gibt nicht genug Pflegerinnen oder Schwestern, sie schauen uns an, jubeln uns ungelenk zu. Laurenz versteckt sich hinter meinen Beinen, Ophelia schließt die Augen: Ich möchte keine blöden Träume haben. Kommt, wir gehen dorthin, zu dem ruhigen Spielplatz. Ein großer Junge rennt auf der Wiese herum, rennt und rennt. Er kann nicht eine Minute sitzen oder stehen, sagt die Oberin.

Wir gehen in den Saal der Säuglinge. Unsere Kinder bleiben lieber draußen. Der jüngste Säugling ist um die sechs Monate alt und wird Unser Prinz genannt. Er räkelt sich im Rollstuhl, erfreut über die Aufmerksamkeit der Oberin. Kein Kind hier kann sich einen Schritt allein bewegen. Ich finde auch noch eine Prinzessin, über ihrem Rollstuhl hängt ein Schild: Ana Guadalupe. Lupita genannt. Sie ist so alt wie Mathilda und kann ebenso süß lächeln. Mehr als ein Lächeln ist Lupita nicht zu entlocken, keine Worte, keine Bewegungen. Aber in diesem Lächeln breitet sie vor mir ihr liebenswertes Wesen aus, sie braucht keine Worte. Lange sitze ich neben ihr, während sich der Rest mit dem Prinzen beschäftigt, und wir schauen uns an. Diesen Blick – ich wusste gleich, dass ich ihn nicht vergessen werde. Ist die Liebe der Schwestern gerecht verteilt? Mir würde die Verteilung verdammt schwer fallen.

In der Kapelle riecht es nach Limonade. Das ist das Wischmittel, sagt Cristina. Die Abendsonne macht den Raum warm. Da stehen Mikrofone und ein Schlagzeug links vom Altar. Ein Bewohner hier kann gut den Rhythmus machen, während drei Schwestern vorsingen. Ihr solltet mal erleben, wie unsere Kinder hier im Gottesdienst mitsingen, eine hier kann alle Lieder auswendig. Und wie ruhig sie werden. Viele dieser Kinder sind einmal in einer Kirche abgegeben worden, manche wurden auch im Müll gefunden. Nun ist die Kirche ihr zu Hause, der Müll soll es niemals werden.

Wir wollen, wie schon so oft, am nächsten Tag im evangelischen Gottesdienst für den Hogar Padre Vito Guarato sammeln. Das gut angelegte Geld reicht hier hinten und vorne nicht, vor allem brauchen sie mehr Personal. Und da ist ein Junge, der sehr, sehr dünn ist, weil ihm das Essen in die Nase rutscht. Er braucht eine OP, die ihm den offenen Rachen schließt. Schön, wenn’s dafür einen Spender gäbe.

2

Wir durchqueren die ganze Stadt zur Kirche, es ist Sonntagnachmittag. Durch das große Altarfenster der Union-Church schaut der Vulkan herein. Wir schauen auf den Altar, der, von hinten mit Fächern versehen und reich verziert, wahrscheinlich ein viktorianischer Schreibtisch ist. Über den Altar hinweg geschaut, breitet sich vor uns die nördliche Umgebung der Hauptstadt aus. Ich prüfe das Klavier, es stimmt, aber scheppert leicht. In der Sakristei liegt ein Buch über Dietrich Bonhoeffer. Der von den Nationalsozialisten hingerichtete Theologe verbindet England (wo er als Pfarrer tätig war), Amerika (wo er in den USA Vorlesungen gab) und Deutschland, die Heimat.

Der Gottesdienst beginnt mit Claus Welzel, der ein Talent zur Begrüßung hat. Nicht nur er staunt über die vielen Menschen, die Kirche ist gut gefüllt. Auch Leute, die nicht zur kleinen lutherischen Gemeinde gehören, sind gekommen. Nach der Nacherzählung der Geschichte vom Turmbau zu Babel geht Katrin mit sechzehn Kindern hinaus, um später mit ihnen und zwei bunt beschriebenen Plakaten zurückzukommen. Die Gemeinde singt gut, auch ohne Klavier. Am Ende, während der Vulkan langsam in der Dämmerung verschwindet, lädt Christiane Jaspersen die Gemeinde zu Cola und Salzbrezeln ein. Eigentlich schade, dass es so ein Treffen nur einmal im Monat gibt.

3

Am Montagmorgen sind wir im Büro des Bischofs der Lutherischen Kirche El Salvadors. Mit Helmut Köhler, der in dieser Kirche wie auch in unserer Gemeinde, besser gesagt in beiden Welten, zu Hause ist, und Rolf Kappler aus unserer deutschen Gemeinde, der zu Gomez schon in der Zeit des Bürgerkrieges Kontakt hatte, in einer Zeit also, in der die Mitgliedschaft, ja selbst der Kontakt zu dieser Kirche ein lebensgefährliches Politikum sein konnte.

Zum Büro geht man durch die Kirche, die vorher eine Lagerhalle war, was man immer noch deutlich sieht. Es ist sehr klein und sieht wenig repräsentativ aus. Einzig an der Wand hängt ein dreiteiliges Bild, Christus in der Mitte am Kreuz, rechts in einer Gruppe von Menschen der Bischof. Ich bin gerade dabei ein Foto davon zu machen, da tritt Gomez ein. Er ist herzlich, gelassen und hat sich auf dieses Gespräch vorbereitet. Er spricht von der Zeit, als in der Kirche Bürgerkriegsopfer Zuflucht suchten und die Pfarrer dadurch in die Schusslinie der Militärs kamen, als er selber Todesdrohungen erhielt und sogar auf das Haus von Rolf Kappler geschossen wurde.

Die lutherische Kirche und die deutsche Gemeinde repräsentieren bis heute zwei Welten. Aber um das Trennende ging es nicht. Am Ende des Gesprächs, in der Kirche wartete man schon auf die Andacht des Bischofs, stellten wir uns in dem kleinen Büro in einen Kreis, die Salvadorianer – zwei seiner Mitarbeiter kamen noch dazu - und wir Deutsche. Wir hielten uns an den Händen, in der Mitte war das Gebet, das uns über uns selbst und über alles, was uns voneinander trennte, hinaushob. Im Gebet verbunden, niemals vorher habe ich das so deutlich empfunden.

Ich hatte ein klitzekleines Geschenk für den Bischof mitgebracht: einen Keks. Auf der Vorderseite aus Marzipan die Lutherrose, hergestellt im Café Zürich. Die Lutherrose, das Siegel Martin Luthers, spielt in den amerikanischen lutherischen Kirchen eine große Rolle, sie ist überall dabei. Gelacht hat er, als er den Keks bekam. Gott sei Dank!

Auf unserer Weiterfahrt musste ich noch oft an die drei Orte – das Heim, die Kirche mit dem schönen Ausblick und das Bischofsbüro – und die Menschen darin denken.

Mittwoch, 6. Juli 2011

Die Schatzinsel

„Am Fuße einer ziemlich hohen Föhre lag unter ein paar Kleiderfetzen ein menschliches Skelett, umrankt von einer grünen Schlingpflanze. Ich glaube, für einen Augenblick rührte ein kaltes Grauen an jedes Herz.“
Wir fahren die honduranische Karibikküste entlang und hören Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“. Laurenz‘ und Ophelias Augen werden immer größer. Auch wir werden morgen früh in La Ceiba auf ein Boot steigen und über das offene Meer nach Roatán fahren. Das ist eine berühmte alte Pirateninsel, deren Hauptstadt den merkwürdigen Namen Coxen Hole trägt.

24 Stunden später erholen wir uns von der unfreundlichen Überfahrt in der Hängematte vor unserer palmengedeckten Strandhütte. Doch noch bevor es ganz dunkel wird, liegen wir im weichen, hellblauen Karibikwasser. Auch die Luft ist blau. Die Lichter der Strandbars leuchten orange. Auch die der „Durstigen Schildkröte“, die zum Bananarama gehört. Die Leute hier sind meist dunkelhäutig und wechseln ständig vom Spanischen ins Englische und zurück. Sie machen tolle Cocktails, die viel leckerer sind, als die All-Inclusive-Mai-Tais vom Decamerone. Am nächsten Morgen, noch bevor die Taucher sich auf den Weg machen, packen wir unsere Schnorchelsachen und gehen den Strand entlang zu den Felsen. Als ich im flachen Wasser versuche, das Schnorchelrohr unter den Taucherbrillengummi zu schieben, kommt Ophelia schreiend zu mir gelaufen. „Ich weiß nicht, ob die Menschen fressen!“ ruft sie atemlos. Tatsächlich, um uns herum schwimmen viele kleine zebragemusterte Fische, so ähnlich wie die auf dem Foto. Sie verlieren ihr Interesse an uns und schwimmen zu Laurenz… Nur ein paar Schritte weiter breitet sich vor uns die ganze Pracht des mittelamerikanischen Riffs (mesoamerican reef) aus. Ein Überfluss an Korallen, blauen, roten und goldenen Fischen. Falterfische, die ein riesiges Auge haben, mit dem sie jeden Eindringling böse anschauen. (Bei näherer Betrachtung ist es allerdings nur ihr Schwanzflossen-Schmuck. Das eigentliche Auge ist viel kleiner.)

Was für ein Erlebnis! Selbst Ophelia taucht stundenlang mit ihrer kleinen Schwimmbrille. Laurenz baut Burgen zwischen Strand und Wasser. Vier Tage lang trocknen unsere Badeanzüge nicht. Wir essen wenig und werden auch im Wasser von der Sonne schokoladenbraun. Die Mittagshitze verbringen wir in unseren Betten. Abends laufen wir den Strand entlang zum nächsten Ort. Dann ist unser erster langer Urlaub zu ende. Am nächsten Morgen verlassen wir unsere Schatzinsel und fahren mit dem Schiff nach La Ceiba zurück. Noch eine Tagesreise bis zur alten Mayaruinen-Stadt Copán, 12 km vor der guatemaltekischen Grenze. Von dort noch 4 Stunden nach Hause.

Ein schönes neugebackenes, wohlgeschmacktes und honigsüsses Lied aus Schlauraffenland

Ich habe den Glauben an das Schlaraffenand verloren. An einem Mittwochnachmittag im All-Inklusive-Resort „Royal Decamarone“ an der Salvadorianischen Pazifikküste wurde mir klar, dass die Menschen in dem Land, wo Milch und Honig fließen, nicht glücklich sind. In meinem Bach fließt vielleicht die doofe LIDL-H-Milch und mein Nachbar hat die leckere Bio-Milch von glücklichen Kühen? Und Honig ist ja auch nicht gleich Honig! Vielleicht bekommt jemand Akazienhonig, der lieber Kleehonig mag und der gute Transfair-Honig aus Chile ist bestimmt ganz selten. Und von den gebratenen Hühnern, die in den Mund fliegen ganz zu schweigen! Alt und zäh die einen, die schon einen Tag lang auf der Suche nach einem Mund herumfliegen und frisch und knusprig das, das eben an meiner Nase vorbei zu meinem Nachbarn geflogen ist? Eine Riesensauerei ist das! Wahrscheinlich ist man den ganzen Tag damit beschäftigt, das Angebot zu beobachten und das Beste für sich zu schnappen.

So, wie die Leute hier am Strandresort von El Salvador, mit denen wir unsere allerersten All-Inklusive-Erfahrungen machen. „Baisers sind knapp, nimm gleich 20, Emilio!“ Unsere Kinder staunen den dicken kleinen Emilio an. Die Plätze in den Restaurants fürs Abendessen werden um 7 Uhr morgens an der Rezeption vergeben – eine Schlange von 20 Leuten wartet darauf, dass es endlich losgeht. Drei Tage lang lassen wir uns davon nicht stören, freuen uns über die Wellenbrecher am Privatstrand, wandern von Pool zum Meer und zurück; schwimmen und laufen Unterwasser auf Händen. Nachts sitzen wir auf dem Balkon, sehen stundenlang den Gewittern zu und lesen 3 Romane. Wir essen Obst und Gemüse und die Kinder, für die keine Baisers übrig sind, trösten sich mit Cornflakes und süßem Pampelmusensaft.




Ein schönes neugebackenes, wohlgeschmacktes und honigsüsses Lied aus Schlauraffenland
(um 1700)
12. Auch fliegen rum das möcht ihr glauben/
gebratne Vögel/ Gänß und Tauben/
und wer da ist so faule/
und solche selbst will fahen nicht/
dem fliegen sie selbst ins Maule.

Dienstag, 5. Juli 2011

Fahre niemals mit dem eigenen Auto nach Semuc Champey!

„Unser Auto hat keinen Vierradantrieb“, sagte ich zu dem Mann, der wie ein Inder aussah und auf der Veranda seines kleinen Hotels am Rio Cahabon saß. Fernöstlich war auch die Musik, die wir hörten. Der Mann strahlte eine Ruhe aus, die wir in diesem Moment nötig hatten und sagte: „Schaut, mein Auto dort hat auch keinen Vierradantrieb, und ich lebe schon lange hier.“ Das klang gar nicht vorwurfsvoll. „In zwei Stunden ist der Weg trocken und ihr könnt nach oben fahren.“ Sorgenvoll schauten wir zum Himmel. Am Morgen hatte es geregnet, jetzt war es halb bewölkt, ab und zu kam die Sonne heraus und trocknete die Straße, die in einer teilweise wahnsinnigen Steigung aus dem Tal herausführte. Zwanzig Minuten zuvor war unser Auto beim ersten Versuch jämmerlich den feuchten Betonweg rückwärts hinabgerutscht.

Wir aßen unser Mittagessen und fragten uns, jeder im Stillen, ob uns der Besuch von Semuc Champey wert gewesen ist, hier vielleicht noch einen oder zwei Tage festzusitzen? Ja, das war es. Semuc Champey, dort „wo das Wasser verschwindet“ in der Sprache derer, die es entdeckt hatten, bescherte uns das schönste Badeerlebnis, das wir je in der Natur hatten.

Wir waren am frühen Morgen dort, noch bevor die meisten NGO-Mitarbeiter und Weltenbummler, die sonst das Hotel am Eingang des Bades bewohnten, aufgestanden waren. Im Regen liefen wir auf befestigtem Weg zu den Becken; tief unter uns, hinter Bäumen und Felsen, musste der Rio Cahabon durch das Tal rauschen.

Als wir ankamen, hatte der Regen aufgehört und die Sonne schien auf die runden Kalksteinbecken und die kleinen Wasserfälle. Auf dem Wasser schwammen rote Blüten. Wir sprangen sofort hinein, stiegen und rutschten von Becken zu Becken, kletterten hinter die Wasserfälle in kleine vom Wasser geformte Höhlen, lachten und jubelten, als wären wir im eigenen Badezimmer. Wir waren noch die einzigen an diesem Ort und fühlten uns wie die ersten Menschen.

Semuc Champey ist eine natürliche, aus Kalkstein bestehende Brücke hoch über dem Rio Carabon. Das Wasser, das dort kaskadenhaft von Becken zu Becken fließt, kommt aus einem Nebenfluss. Irgendwo ganz weit vorn, hinter den letzten Becken, ergießt sich das Wasser in einem gewaltigen Wasserfall in den Hauptfluss. Wehe dem, der dort zu weit über den Beckenrand klettert, er wäre verloren.

Am Rande der Becken sahen wir nun doch Menschen: Arbeiter fischten Blätter aus dem Wasser. Die Sonne lachte, wir gingen zurück. Am Ausgang begegnete uns nach langer Zeit unser erstes Hinweisschild. Wir jubelten. Guatemala ist reich an Naturschönheiten, aber arm an Schildern. Um bis hierher zu finden, hatten wir viele Menschen nach dem Weg fragen müssen. Nun sahen wir: „Coban 67 km“. Zum Mittagessen sind wir dort, dachten wir. Bis der steile Teil des nassen Weges kam, an dem unsere Fahrt zunächst scheiterte.

„Wenn es jetzt noch mal regnet und wir hier festsitzen, dann bleiben wir eben noch zwei Tage.“ Der Gedanke erschreckte uns nicht. Aber es regnete nicht und der „Inder“ fuhr uns selbst in unserem Auto den steilen Weg nach oben. Geschafft. Später suchten wir noch einmal im Reiseführer nach Gefahrenhinweisen und fanden die Warnung, niemals mit dem eigenen Auto nach Semuc Champey hinunterzufahren. Man sollte doch genauer den Reiseführer lesen, wenn man Touren auf eigene Faust unternimmt.