Sonntag, 12. Februar 2012

Padre Pedros Kinder


Sonntag gegen halb acht wache ich in einem fremden Bett auf. Ein schmales Zimmer, zwei Betten, Licht dringt durch das kleine Fenster über dem Schreibtisch. Ophelia ist schon wach. Von draußen höre ich das Klappern von Geschirr, Kinderstimmen. Wir sind zu Gast bei Peter Mettenleiter in dem Dorf Cabricán, etwa 60 km nördlich von Quetzaltenango. Der Ort, in dem er nicht geboren ist, aber in dem er begraben sein will. Auf dem Weg zu diesem Ort konnten wir den Tajumulco sehen, den mit 4.200 m höchsten Vulkan Zentralamerikas, dahinter ist die mexikanische Grenze. Ist es nicht schön hier? Fragte er gestern. Ja, es ist schön hier. Berge ringsum, Wald, von Schluchten durchzogen, irgendwo weiter unten ein Flüsschen, Ruhe.
Am Abend vorher saß ich noch mit ihm in der Sala am Kamin. An der Wand gewebte und bestickte Stoffe, etwa mit der Aufschrift: „Felicidades Padre Pedro 50 años de sacerdocio“. Das Jubiläum ist auch schon wieder ein paar Jahre her. Weit mehr als die Hälfte seiner 50jährigen Priesterzeit verbrachte er in Guatemala, einige Jahre auch hier in Cabricán. In manche Orte musste er zum Gottesdienst auf dem Pferd reiten. Jetzt gibt es Straßen – und überall Kirchen, wo er gewirkt hat. Er hat sie selbst entworfen.
Peter Mettenleiter beim
ökumenischen Gottesdienst
Er erzählt, wie er nach Cabricán zurückkam, ja, zurückgeholt wurde, nachdem er schon seinen Ruhestand in Deutschland begonnen hatte. Nein, Ruhestand war nichts für ihn, er wurde krank davon. Dann lieber zurück zu den Leuten hier, die ihn brauchen. Hier, nach ein paar Jahren Priesterdienst an einem anderen Ort des guatemaltekischen Hochlands (San Bartolo Aguas Calientes, Totonicapán) war er nun, 2011, zum zweiten Mal in den Ruhestands-Versuch getreten. Und die Leute aus Cabricán waren zu ihm gekommen und hatten gesagt: Wenn Du schon in unserem Dorf begraben sein willst, dann kannst Du auch vorher noch ein wenig bei uns leben. Und sie bauten ihm ein geräumiges Haus, vermutlich das erste Pfarrhaus der Welt, das für einen pensionierten Pfarrer gebaut wurde.
Sonntagsfrühstück mit Graubrot und weichgekochtem Ei. Es riecht behaglich in der Küche. Gekocht wird auf Holzfeuer. Holz gibt es reichlich. Im Gegensatz zu Eierbechern, da muss man sich mit Schnapsgläschen behelfen. Das Brot hat Lesbia gebacken, die junge Haushälterin. Zwei Kinder sitzen mit am Tisch, der zehnjährige Kevin und die fünfjährige Ana Cristina. Sie sagen Papa zu dem Pater, die leiblichen Väter haben sich nie gekümmert, wie bei so vielen guatemaltekischen Kindern. Ophelia wird von Cristina neugierig beobachtet. Ophelia braucht länger, um mit anderen warm zu werden. Die Kinder von Lesbia haben es gestern schon vergeblich versucht. Vielleicht klappt es heute.
Wir laufen zur Kirche und sind spät dran. Das Kirchengebäude ist eine Baustelle, an den Altarraum wird ein Querschiff angesetzt, das vermutlich nochmal so viele Gottesdienstbesucher aufnehmen soll wie vor dem Umbau. An der Kirche sieht man, wie das Dorf wächst. Der Gottesdienst findet solange in der Festhalle statt, und weil die auch nicht ausreicht, sitzen 60 Leute draußen und hören über Lautsprecher zu. Drinnen und draußen ist jeder Platz besetzt. Der junge Pater Mario hat schon angefangen. Als wir eintreten, wird Peter über Mikrofon willkommen geheißen, Applaus. Pater Mario liest Briefe vor. Fast alle beginnen so: „Und hier noch ein Brief von … aus den Vereinigten Staaten“, etwa 20 Briefe. Man hat den Eindruck, das Dorf hat in den USA eine Außenstation.
Gringohäuser nennt Peter die Häuser, die mit dem Geld der in der Fremde lebenden Verwandten gebaut werden. Immer mehr sieht man hier davon. Schau dir diese nutzlosen Balkone an, sagte er gestern bei der Hinfahrt. Die lieben Verwandten in der Fremde werden in die Fürbitten eingeschlossen, sie haben es als illegale Arbeitskräfte nicht leicht, manche kommen dort gar nicht erst an. Mit den Gringohäusern verändert sich hier nicht nur die Landschaft, sondern vermutlich auch das soziale Gefälle etwas.
In Cabricán
Wir sitzen neben der Band, Schlagzeug, zwei oder drei Gitarreros, Sänger. Die Kirchenmusik ist so volkstümlich wie die Kleidung: Die Frauen tragen Huipiles und darüber die reichbestickten Tücher, Tzutes, entweder auf dem Kopf oder um die Schultern gelegt. Pater Mario, er hat in Rom studiert, predigt fröhlich und volksnah. Bei dem Weg, der dem kommenden Heiland bereitet werden soll, erwähnt er den schlechten Zustand der Straßen. Bis die repariert werden, kann es ewig dauern. Es sei denn, der Präsident der Vereinigten Staaten kommt …  Auf dem Gebäude gegenüber vom Festsaal sehe ich folgenden Schriftzug: „Centro de Formacion (Ausbildungszentrum) Padre Pedro Metenleiter“, das fehlende „t“ im Namen müssen sie irgendwann noch nachtragen.
Der Rückweg zum Haus dauert länger, ab und zu wird sein Name gerufen und wir müssen auf einen Schwatz anhalten. Der Bürgermeister, die Lehrer der Schule, er kennt sie alle. Es sind seine Kinder. Neben seinem Ruhesitz steht die Schule, seine Schule, erbaut mit Geld aus Deutschland. Darin eine Zahnarztpraxis. Beim Mittagessen erzählt er: Jedes Jahr wechseln die Zahnärzte, denn sie kommen nur für ihr Pflichtjahr nach Cabricán. Manchmal müssen sie ein Vierteljahr auf einen neuen Dentista warten. Dann kommen die Leute mit ihren geschwollenen Backen zu ihm.
Irgendwann hat er sich von einem Pflichtjahrzahnarzt zeigen lassen, wie man Zähne zieht, wie man die Betäubungsspritzen ansetzt (oben ins Zahnfleisch, unten direkt in den Kiefer). Was sollte ich machen, wenn die Leute mit Schmerzen vor meiner Tür standen? Also hinein in den weißen Kittel. Mittlerweile habe ich wahrscheinlich über 200 Zähne gezogen. Sein Pflichtjahr als Zahnarzt hat er lange hinter sich.
Padre Pedro ist über 80. Keine Spur von Erschöpfung. Er wird gebraucht. Fast täglich ist er mit einem seiner drei Autos (alles Spenden) unterwegs. Von einem Projekt zum andern. Weit weg in Ixcán wird für Bauern, die Land bekommen haben, ein Brunnen gebohrt. Oder in den Bergen um Cabricán muss die Wasserleitung, die das Dorf versorgt, repariert werden. Nicht dass er alles alleine machen will. Beteiligung ist das Zauberwort. Im Nachbardorf hat er vor Jahren eine Schule gebaut. Mit dem ganzen Dorf. Das Grundstück hat extreme Hanglage. Ein Fundament aus Natursteinen musste geschaffen werden. Im Gottesdienst rief er zur Mithilfe auf. Am nächsten Sonntag brachte jeder Kirchenbesucher einen großen Stein mit. So entstand die Schule.
Und doch, in gewisser Weise ist er unersetzlich. Es gibt einen Förderverein in Deutschland der ca. 800 Spender mobilisiert, die jährlich 100.000 € zusammensammeln. Dreimal dürfen Sie raten, wie der Verein heißt! Natürlich: „Padre Pedro Guatemala-Hilfe e.V.“ Der wirkliche Ruhestand muss wohl noch warten.