Mittwoch, 4. Januar 2012

Ein langer Tag über den Wolken

Bericht von einer Wanderung in über 3.000 m Höhe, die in einem viel zu heißen Thermalbad endete.

In Guatemala ist man fast immer im Gebirge. Die Hauptstadt liegt 1.500 m hoch; die Fläche der Stadt ist durchzogen von zahlreichen Schluchten. Es ist also sachlich nicht richtig, zu sagen: wir fahren ins Gebirge. Aber Anfang Dezember fuhren wir  - rein gefühlsmäßig – doch in die Berge, nämlich nach Quetzaltenango, oder einfacher und volkstümlicher Xela (gesprochen: Schäla) genannt. Die zweitgrößte Stadt des Landes liegt auf etwa 2.500 m Höhe und ist von vielen hübschen Vulkanen und Bergen umgeben. Auf einen dieser Berge, den Pico Zunil wollte ich rauf, zusammen mit Mathilda. Im Reisebüro mit dem völlig zutreffenden Namen Adrelanintours fragte ich nach einem Bergführer und bekam mit dem Führer auch einen neuen Weg, der acht Stunden dauern und viel angenehmer als die bloße Besteigung des Pico Zunil sein sollte, weil dieser Weg hauptsächlich abwärts führe. Wenn es also um 6 Uhr losginge, wären wir Mittags im Thermalbad Las Georginas, ein erstrebenswertes Ziel. Also für morgen bestellt und bezahlt. Aber der Tourenberater hatte sich verschätzt: Am Ende kamen wir erst Abends abgekämpft am heißen Wasser an.
Morgens wartete Edwin am Hotel. Katrin fuhr uns mit dem Auto zum Cumbre de Alaska auf eine Höhe von ca. 3.000 m. Schon zu Beginn der Wanderung konnten wir auf eine dichte Wolkendecke herabsehen, die uns von der Stadt Xela trennte. Cumbre de Alaska sieht so aus, wie es klingt: Karg, kalt und trocken. Das Leben der Menschen an diesem Ort, wo der Wind ungehindert um die Häuser pfeift, muss hart sein. 
Vulkane von Antigua und Atitlan im Morgenlicht. Foto: Neuhaus
Es war 7.30 Uhr, als wir loswanderten, Mittags würden wir nicht am Ziel sein, sondern nach optimistischer Schätzung von Edwin etwa 15.30 Uhr. Wir sollten bald merken, dass alle Schätzungen Edwins optimistisch waren. Vor uns schlängelte sich eine Hügelkette in Richtung Pico Zunil, ihr Kamm wäre unser Weg. Gab es hier schon Überfälle?, frage ich unseren Bergführer. Nein, sagt er nachdenklich, aber er befürchte, dass die Gewalt aus der Hauptstadt sich irgendwann auch hierher ausbreiten und die wenigen Touristen vertreiben würde.
Der Weg über die Hügel ist etwas anstrengend, aber immer noch angenehm. Immer wieder geht es aufwärts und Edwin sagt dann gut gemeinte Sätze wie: Das ist jetzt der zweite von drei Anstiegen. Beim vermeintlich dritten sagt er: das ist jetzt der vorletzte. Und so geht das immer weiter. Er meint es gut.
Siete Cruces
Der Kamm des kleinen Gebirges heißt Siete Cruces, sieben Kreuze. Ab und zu treffen wir tatsächlich auf ein aus Stein gemeißeltes Kreuz. Sie laden zu sportlichen Kreuzwegandachten ein. Noch dazu sind wir Wanderer zwischen zwei Welten.  Wir gehen auf dem Monchon, der Grenze zwischen zwei Regionen, in denen (neben Spanisch) verschiedene Sprachen gesprochen werden: Im Norden die Region Quetzaltenango, wo man Quiché spricht, im Süden Solola mit der Sprache Tzutujil. Von hier oben, weil die Sicht gut ist, können wir noch mehr als diese beiden Regionen überblicken. Wir sehen im Süden nicht nur die Vulkane am Atitlánsee, sondern sogar neben andern den nahe der Hauptstadt gelegenen Vulkan Agua. Im Norden zeigt uns Edwin die Berge, die an der Grenze zu Mexiko sind. Es ist, als könnten wir von hier oben das ganze Land sehen. Ein Segelflug über die Berge kann kaum schöner sein.
Wie heißt der Ort unter uns? Das ist die geothermische Anlage, sagt Edwin. Hier wohnten früher auch Menschen, sie starben bei einer Explosion. Wie das? Die Anlage fördert große Mengen heißen Wassers. Ein Mann dreht jeden Abend den Hahn zu und macht ihn morgens wieder auf. Es geschah am Morgen nach einer heiligen Nacht vor einigen Jahren: Der Mann am Hahn hatte zu viel getrunken und am Weihnachtstag verschlafen. Zehn Familien kamen ums Leben. Was für ein bizarrer Widerspruch an dem Tag, wo die Welt die Geburt des Retters feiert! Wie leichtfertig hier menschliches Leben aufs Spiel gesetzt wurde.
Sehr müde Wanderer am Pico Zunil
Wir hatten den höchsten Punkt der Wanderung, nahe am Pico Zunil, erreicht, 3.425 m. Die Hälfte unserer Wanderung. Der Mittag war um eine halbe Stunde überschritten. Aber von hier aus, so Edwin, würde es nur noch bergab gehen, das würden wir in vier Stunden schaffen. 16.30 im Thermalbad, das war zwar viel später als erwartet, klang aber akzeptabel. Doch wir hatten uns kräftig getäuscht. Im Nachhinein wissen wir nicht mehr, ob diese Täuschung dadurch entstanden war, dass wir Edwin suggestiv gefragt hatten, ob wir es denn bis halb fünf schaffen würden, oder ob er von sich aus diese Zeiten ins Spiel gebracht hatte.
Je länger wir wanderten, je größer unserer Erschöpfung wurde, desto mehr bekamen wir zu hören, was wir hören wollten. Langsam tauchten wir abwärtssteigend in die Wolkendecke ein. Wir wanderten im Bergnebelwald. Die Vegetation veränderte sich. Der Wald wurde dichter. Immer mehr umgefallene Baumstämme kreuzten unseren Weg. Märchenhaft – der Nebel zwischen den Pinien und Tannen.
Erschöpfter werdend, fragten wir immer öfter nach der verbleibenden Wanderzeit. Ja, jetzt sind es noch höchstens drei Stunden. Noch drei Stunden?? Wir sind doch schon sieben Stunden unterwegs!! Ja, aber dann habt ihr es geschafft. Wir kletterten, gefühlt vertikal, einen steil abfallenden dicht wachsenden Bambuswald hinab. Während der Aufstieg Mathilda schwerer viel, hatte ich nun mehr Mühe; Abstiege gehen auf die Knie.
Nach zwei Stunden waren wir wieder horizontal unterwegs – in einem herrlichen Nadelwald. War Georginas Themalquelle nicht ganz in der Nähe? Ich wollte nicht mehr fragen. Aber es gab nichts, wo nach wir uns mehr sehnten als nach Bestätigung, dass das Thermalbad ganz nahe war, höchstens eine Stunde entfernt.
Ich bat Mathilda zu fragen. Fröhlich und wie nebenbei erklärte Edwin, dass jetzt das letzte Stück Weg beginnen würde, noch etwa zwei Stunden. Zwei Stunden? Nach unserer Rechnung dürfte es nur noch eine Stunde sein. Das Vertrauen in unseren Führer war gestört. Irgendwie waren wir zutiefst erschöpft. Diese Erschöpfung war natürlich körperlich. Aber wir empfanden sie vor allem als seelische Erschöpfung durch zu viele falsche Zeitangaben.
Etwas zu heiß: Fuentes Georginas
Doch diese letzte Zeitangabe war richtig. Nach zwei Stunden, 18.30 Uhr, 11 Stunden seit unserem Start im kargen Cumbre de Alaska, erreichten wir das Thermalbad, schon einige hundert Meter früher angekündigt durch die lauten Stimmen von Laurenz und Ophelia, die mit Katrin bereits seit Mittag dort auf uns warteten.
Das Thermalwasser war zum Baden zu heiß. Es ergoss sich kaskadenhaft von einem Becken in zwei weitere. Das Wasser im ersten, dem größten Becken war ideal zur Bereitung von grünem Tee (nicht ganz kochend!). Im zweiten konnte man es etwa fünf Minuten aushalten, bevor die Haut sich ablöste. Im dritten, dem kleinsten Becken, konnten wir eine Weile ruhig hocken. Und genau das war es, was wir, Mathilda und ich, einzig und allein tun konnten: eine Stunde lang in und außerhalb des Wassers ruhig zu hocken. Man nimmt hier das Wasser wie es kommt. Man nimmt die Dinge, wie sie kommen.

Sonntag, 11. Dezember 2011

Da wird der Elefant in der Schlange verrückt


Ein Monat ist vergangen. Nach Markus' Rückkehr aus Deutschland begann der Endspurt für die Vorbereitung des Weihnachtsbasars der deutschen Gemeinde. Am Tag danach dann gleich die Abfahrt in den Urlaub, zunächst nach Panajachel an den Atitlan-See.
Das besondere an Panajachel ist, dass man sofort alles vergessen muss, was einen beschäftigt, weil das Gehirn die gesamte Kapazität braucht, um eine einzige Information zu verarbeiten: Den Anblick des Sees mit den Vulkanen dahinter. Und dieser Anblick ändert sich ständig: Mal scheint das Ufer ganz nah zu sein, in der klaren Morgenluft mit den schrägen Schatten, die Konturen zum Greifen nah, vormittags ziehen Wolken auf halber Vulkanhöhe auf und lassen sie plötzlich doppelt so mächtig erscheinen. Gegen Mittag wird es etwas diesig, das andere Ufer rückt in unerreichbare Ferne wie ein märchenhaftes Land, der See dazwischen wird riesengroß. Nachmittags dann die wechselnden Farben des Abendlichtes, ein früher Mond, Sterne. Als ich das zum letzten Mal gesehen hatte, war ich gerade 30 Jahre alt geworden.
Sicht über den Atitlan-See von Panajachel aus. Vor über 70 Jahren stand hier auch Antoine de Saint-Exupéry. Der Cerro de Oro ist hinter der Laterne versteckt.

Im Januar waren wir schon einmal am Atitlan-See, allerdings an der anderen Uferseite. Das Gute ist hier zu nah, man kann es nicht sehen. Schön ist es dort trotzdem. Damals (18.1.) berichteten wir über einen Berg, den wir erklommen hatten, den Cerro de Oro, der verblüffende Ähnlichkeit mit einem von einer Schlange verschluckten Elefanten hatte, wie ihn der Erzähler in Saint-Exupéry’s  „Der kleine Prinz“ gezeichnet hatte. Ein hübscher Zufall – ein Schild der Konrad-Adenauer-Stiftung machte darauf aufmerksam.
Aber was sagt Ihr dazu: Der Autor des Kleinen Prinzen, Antoine de Saint-Exupéry, kannte diesen Berg. Er war nicht nur über der Sahara abgestürzt (1935, das gilt als größter Einfluss für die Geschichte), sondern auch einmal in Guatemala, 1938, bei einem Rekordflugversuch von New York nach Feuerland. Er wurde schwer verletzt und erholte sich in Antigua Guatemala. Von dort unternahm er auch Reisen an den Atitlan-See. Und er zeichnete viel in dieser Zeit.
Cerro de Oro im Morgenlicht vor den
Vulkanen Toliman und Atitlan
Bestimmt hat er sich die Geschichte von der Schlange und dem verschlungenen Elefanten beim Anblick dieses Berges ausgedacht. Aber wer weiß das schon? Wenn man bei google "Cerro de Oro" und "The Little Prince" eingibt, kommt man auf drei Einträge. Das wird wahrscheinlich der vierte.

Und überhaupt Antigua…? Hatten wir es nicht in unseren ersten Postkarten so beschrieben: „Antigua ist von drei Vulkanen umgeben, einem aktiven und zwei erloschenen“? Auf seinem Asteroiden, sagt der kleine Prinz, gäbe es „drei Vulkane“, zwei aktive („sehr praktisch zum Eierkochen“) und einen erloschenen. Fünf Jahre bevor er das Buch schrieb, lebte er in Antigua. Und noch etwas – mehr an den Haaren herbeigezogen vielleicht. Erinnert ihr euch an die Geschichte mit den Affenbrotbäumen? Das Schaf (in der Kiste) sollte mit auf den Planeten, um die jungen Affenbrotbaumtriebe  zu fressen, die die größte Bedrohung des Asteroiden darstellten. Affenbrotbäume gehören zu Unterfamilie der Wollbaumgewächse, zu der auch die Ceiba zählt, der guatemaltekische Nationalbaum.
Von der anderen Seite, Aufnahme vom Januar
Das alles diskutierten wir gestern mit Freunden, die auch schon davon gehört hatten, am Kaminfeuer bei einem Schluck alten Ron Zacapa. Sie fanden das leider nicht ganz so aufregend wie ich – oder sie haben einfach nur schon zu oft darüber geredet.
Am 16. November erschien „Der Kleine Prinz“, der in über 240 Sprachen übersetzt ist, auf K’akchiquel, der ersten Maya-Sprache. (Es gibt auch 47 verschiedene koreanische Versionen.) Die meisten K’akchiquel-Sprecher leben - zwischen Antigua und dem Atitlan-See. Vielleicht fängt einer von ihnen mal an, die Wikipedia-Einträge zu ergänzen und ein kleines Büchlein darüber zu schreiben.

Montag, 7. November 2011

Und mittendrin Cottbus

"Das Heilmittel ist schlimmer als die Krankheit." - Wer weiß, ob die Ärztin von Ernst Francis Bacon gelesen hatte, bevor sie vorschlug, seine Medikation abzusetzen. Markus' Vater geht es jetzt sehr schlecht - die Krankheit war wohl doch schlimmer als die Heilmittel.
Markus fliegt morgen (8.11.) nach Berlin und fährt von dort für eine knappe Woche nach Cottbus. Am Montagabend dann zurück Berlin und von dort Dienstagfrüh (15.) nach Guatemala.
Die Handynummer ist die alte.

Nachtrag, 10.11.11
Markus' Vater ist heute Nacht im Krankenhaus in Cottbus verstorben. In einer Woche wäre Ernst Böttcher 77 Jahre alt geworden. Die Beerdigung wird am Montag stattfinden.


Fotos von Allerheiligen in Guatemala

Montag, 24. Oktober 2011

Die Ablesemarke glücklicher Planeten


Messgeräte sind überall, wo man hinschaut. Man muss gar nicht auf die Straße gehen und das von der Konrad-Adenauer-Stiftung suchen. Sogar der Tropenspiegel hat eines und damit soeben den 3000. Seitenbesucher gemessen. Herzlich Willkommen!
Neulich haben wir geschrieben, dass Guatemala das Schlusslicht der Lateinamerikanischen Demokratieliga ist, das hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung gemessen (12.10.). Am Tag darauf kam die frische ZEIT aus Deutschland angeflattert - sie braucht ungefähr 10 Tage über den großen Teich - und setzte unserer neuen Messgeräteaufmerksamkeit neue Maßstäbe. Wie kann man den WOHLSTAND von Ländern messen, war die Frage. 1. Vorschlag: nach dem Bruttosozialprodukt , 2. Vorschlag: nach der Verteilung von Reichtum (Gini-Koeffizient), 3. nach Bildung und Lebenserwartung (HDI), 4. nach dem ökologischen Fußabdruck und 5. nach dem HPI, dem Happy-Planet-Index, der Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit ins Verhältnis zum ökologischen Fußabdruck setzt.
Wohlfühlcafé in Guatemala-Stadt
Der fünfte Vorschlag gefiel uns von Anfang an. Das Messgerät steht im Südosten Londons, in der Jonathan Street, bei der Londoner New Economics Foundation.  Bei dieser Messung schneidet ein Land besonders gut ab, "in dem die Menschen viele glückliche Lebensjahre mit möglichst geringem Umweltschaden verbringen". (ZEIT)

Unglaublich aber wahr, Guatemala ist auf Platz vier. VIER. Aber nicht der Lateinamerika-Liga, sondern der Welt-Liga. Auf den ersten 10 Platzen befinden sich 9 mittelamerikanische und karibische Staaten, angeführt von Costa Rica. Sogar Kuba! Auf Platz 7! Deutschland auf Platz 51, USA 114. Ganz unten die afrikanischen Staaten. Es ist anzunehmen, dass diese Messung Schwächen hat, auch wenn sie sehr vernünftig klingt.

Woran merkt man, dass der Planet glücklich ist in Guatemala - außer an Zeitampeln und Wohlfühlparkhäusern (8.9.)? Wo's doch mit der Demokratie so schlecht aussieht? Ein Versuch der Erklärung:
1. Alle Menschen sind immer nett. Diskussionen und Streit werden notfalls gewaltsam unterbrochen.
2. Der kubanische Rum kostet 5 €/Flasche
3. Der chilenische Wein kostet 2,70 €/Flasche (z.B. Gato Negro Carmenère)
4. Es gibt riesige Stoffläden mit professioneller Bedienung (Filz  1 €/Meter)
5. Frauenhilfsnähereien nähen einem, was man will.
6. Die Landschaft ist überwältigend.
7. Alle, die wir kennen, sind wahnsinnig hilfsbereit.
8.  Überall wird einem die Tür aufgehalten.
9. Die Brubeck Brothers spielen hier.
10. Alle Frauen tragen Stöckelschuhe. Man sollte nicht glauben, wie gut das aussehen kann.
11. Die Leute sprechen das beste Spanisch der Welt.
12. Jeder hat deutsche Vorfahren.

Lassen wir das mal so stehen. Die nächste Messung kommt bestimmt. Und dann sieht wieder alles anders aus.

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Ungerade Taktarten


[en que se trata de lo que la "Fundación Konrad Adenauer" considera "democratico", un concierto de los hermanos Brubeck  y los logros de Laurenz en esta estación lluviosa.]
1990 in Kuba
Wenn man aus unserem Haus tritt, nur wenige Meter weiter rechts, steht ein riesiges Messgerät. Es misst bei Tag und bei Nacht und doch kann man es nicht sehen. Denn es misst keinen Regen (da hätte es viel zu tun), keine Temperaturunterschiede (da hätte es wenig zu tun), und auch keine Geschwindigkeitsüberschreitungen (überall sind Túmulos - Verkehrshügel). Nein, das Messgerät steht im Haus der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Und es misst die Demokratie. Jedes Jahr wird ein Bericht veröffentlicht, in dem geschrieben steht, wie es mit der Entwicklung der Demokratie in Lateinamerika aussieht. 
Für Guatemala haben sie jetzt "Platz 18" gemessen, mit 1.9 Punkten. Das ist der letzte Platz, wie in der Bundesliga.  Kann man als Land  in eine andere Liga "absteigen"? Den ersten Platz hat Chile, mit 10 Punkten. Alles paletti in Bezug auf "Respekt der politischen Rechte und Freiheiten", "Qualität der Institutionen und politische Effektivität" und "effektive Regierungsmacht". Vor 18 Jahren haben wir noch in Chile gelebt - heißt das, das wir uns in jedem Jahr um ein Land verschlechtern? Bodensatz auch die Länder der "Achse des Sozialismus".  Bolivien steht noch am besten da (3,3), Venezuela ist mit 2,46 Punkten noch einen Hauch vor Guatemala, also ebenfalls ein Abstiegskandidat. Wie Ecuador, El Salvador und die Dominikanische Republik. Und wo ist - Kuba? "Unvergleichlich", sagt die Konrad-Adenauer-Stiftung. "Vor 50 Jahren abgestiegen in das Reich der Unvergleichbarkeit und nie wieder auferstanden." Ferner fehlt in der Auflistung "Haiti", weil die Signale von dort zu chaotisch sind, um sie zu messen.
So alt wie die kubanische Revolution
Hätte die KAS "Preiswerte kulturelle Angebote" als Richtlinie, würde sich Guatemala vielleicht nicht so weit unten befinden. Nach einigen Theater- (5 €) und Jazzabenden (4 €), waren wir in der letzten Woche bei einem Konzert der Brubeck Brothers, der Söhne von Dave Brubeck im Auditorium der Francisco Marroquin-Universität (18 €). Ein schönes Konzert, dass etwas zu sehr vor sich hingeplätschert wäre, hätte es da nicht die Vorliebe von Dave Brubeck für ungerade Taktarten gegeben. Im zweiten Teil spielten sie Blue Rondo A La Turk (9/8) und ganz zum Schluss - endlich - Take Five, im 5/4-Takt. Sohn Dan ist Schlagzeuger geworden, und so konnten wir zum ersten Mal live das Stück so hören, wie es ursprünglich gedacht war, mit dem Schlagzeug als prominentem Instrument.   "Take Five" war 1959 geschrieben und 1960 aufgenommen worden und wurde eines der populärsten Jazz-Stücke überhaupt. Es hätte die Begleitmusik zur kubanischen Revolution sein können.

Weinverkostung am 3. Oktober.
Währenddessen regnet es draussen weiter. Es regnete auch bei unserer Feier zum 3. Oktober. (21 Jahre!)
Es wird noch eine Woche regnen, danach ein halbes Jahr nicht mehr. Ein komischer Takt auch das. Nichtsdestotrotz war es eine großartige Regenzeit für Laurenz, denn er hat Fahrradfahren und Schwimmen gelernt, obwohl er erst viereinhalb ist.
Dreimal am Tag fragt er außerdem "Mama, wie geht's Dir?", weil man das hier halt so fragt. Ophelia und Mathilda steigen unbemerkt in die spanischsprachige Welt ein. Neulich hatte Ophelia "Deutsch-Hausaufgaben" auf und ich sah, wie sie schrieb: "El arbol tiene cerezas rojas" (Der Baum hat rote Kirschen.) Ophelia? "Ach nee, ich meinte, 'Spanisch-Hausaufgaben'".

Samstag, 10. September 2011

Der Tod und der Sänger


„Schreib mal schnell den Namen auf!“, seit Tagen waren wir an Plakaten vorbeigefahren, die ein Konzert ankündigten. Facundo Cabral, der Name sagte uns nichts, war auch schwer zu merken, aber der alte Mann sah gut aus. Zuhause, auf youtube, hörten wir ein Lied von ihm: No soy de aqui, no soy de allá, vom Anfang der 70er Jahre. Klang interessant, der Mann schien Kult zu sein, aber der Termin war ungünstig. Wir verschoben die Entscheidung, vergaßen es dann und hofften auf ein Konzert im nächsten Jahr.
Ich bin nicht von hier, ich bin nicht von dort. Ich habe kein Alter und keine Zukunft. Und Glücklichsein ist die Farbe meines Wesens.
Die Samstage beginnen bei uns meist so früh wie die Arbeitstage. Ophelia und Laurenz stehen kurz nach 6 auf und wollen irgendetwas essen. So auch am Samstag, den 9. Juli. Ich quäle mich aus dem Bett, mache Herzcornflakes (von Quaker) und öffne am Rechner die Titelseite der Tageszeitung, Prensa Libre.  Es ist 6:26. Während ich verschlafen auf den Ticker-Kasten starre, der meist mit Toten und Verunfallten der letzten Nacht und Informationen über die Juniorenfußballnationalmannschaft gefüllt ist, poppt eine neue Nachricht auf: „6:28 Facundo Cabral auf dem Weg zum Flughafen erschossen“.
Ich bin gerne der Freund der Diebe und liebe französische Lieder.
Die meisten guatemaltekischen Morde finden im Rahmen von Erpressungsversuchen in den ärmsten Stadtvierteln statt.  Das ist schrecklich, aber weit von unserer Realität entfernt.
Ist doch alles möglich?
Wenn ich die Zeitung im Internet lese, dann immer auch die Kommentare zu den schlechten Nachrichten, die stets voller Selbsthass sind: „Ja, so sind wir Guatemalteken.“  „Wir haben es nicht anders verdient.“  Nur wenige Minuten nach der Veröffentlichung der Meldung begann ein Menschenstrom zum Ort des Unfalls, wo das Auto mit dem Sänger noch stand. Manche hatten ihre Gitarren mitgebracht und sangen sein berühmtestes Lied.  Ein paar Händler, Bauern, Waschfrauen – Leute, die eben grad dastanden, sangen mit. Sie kannten den Text der Strophen nicht gut, schnappten aber immer irgendwelche Worte und Zeilen auf. Alle guatemaltekischen Fernsehkanäle waren vor Ort. Eine Frau saß auf der Straße und schrieb einen Brief. Man kam aus dem Heulen gar nicht mehr heraus.
Mir gefällt der Wein ebenso wie die Blumen. Mir gefallen die Liebenden, aber nicht die Herren.
Nachdem der erste Schock überwunden war, war die wichtigste Frage der Medien: „Wie steht Guatemala jetzt da?“ „Wir haben ihn getötet.“ „Überall wird man uns hassen.“  Der einzige Unterschied zu sonst aber war, dass dieser Tod absolut keinen Sinn hatte. Niemand konnte sich einen Reim drauf machen. Wer sollte davon profitieren?  Einen 74jährigen Alten zu töten? Aber hatte er nicht am Ende des letzten Konzerts gesagt: „Jetzt komme, was wolle. Gott weiß schon, was er tut“?
Es gefällt mir von Balkonen zu springen und Fenster zu öffnen. Und die Mädchen im April.
Am Ende machte doch alles Sinn. Wie sich herausstellte, war Facundo Cabral, anstatt auf sein eigenes Taxi zum Flughafen zu warten, spontan in das Auto seines nikaraguanischen Konzertveranstalters gestiegen, ein 40jähriger mit Nachtclubs in ganz Zentralamerika und einigen Feinden. Das war das Todesauto, lange geplant von einem von ihnen aus Costa Rica. Auf dem Weg zum Flughafen sollte er sterben. Aber der Konzertveranstalter überlebte schwerverletzt. Wer starb, war Facundo Cabral. Und Guatemala war für ein paar Stunden Gesprächsthema in der Welt.

Donnerstag, 8. September 2011

Zwischen Mittelalter und dreidimensionaler Werbung


Am Sonntag sind Wahlen
Manchmal erlaubt einem die Stadt Einblicke in die Vergangenheit und in die Zukunft. Während über die Plaza Central ein Hirtenjunge seine Ziegen treibt, ein anderer Eisblöcke abgereibt und den Schnee mit Sirup zu Wassereis verarbeitet, gibt es  in den Zonen südlich davon einige Neuerungen  im Straßenverkehr zu bestaunen, die man sich auch für Berlin wünscht. Die Ampel mit Zeitanzeige ist davon die beste. Anfangs erschien sie mir eher wie ein Spielzeug. Aber welch beruhigenden Einfluss sie auf das Gemüt des Autofahrers hat, habe ich erst mit der Zeit erfahren! Wäre ich in Berlin 200 Meter vor einer grünen Ampel würde ich in jedem Fall beschleunigen. Sie mag dann trotzdem vorher rot werden oder noch fünf Minuten grün bleiben.  Hier natürlich nur, wenn es sich lohnt. Auch kein Problem, wenn die Ampel rot ist! Anzeige: 47 Sekunden! Da kann man noch einen Schluck aus der Wasserflasche nehmen und das Handy in der Tasche suchen und den Stadtplan auf der richtigen Seite aufschlagen ohne zu befürchten, dass die Autos hinter einem anfangen zu hupen.

Die Oakland Mall, in die wir des Öfteren ins Kino gehen (und wo es ein Restaurant inmitten eines Aquariums gibt), hat eine mehretagige Tiefgarage. Nicht nur, dass es auf jeder Etage eine Anzeige gibt, wie viele freie Parkplätze dort sind, auch der Anfang jeder Parkreihe zeigt die Anzahl der darin befindlichen freien Parkplätze an.
Ins Fischrestaurant ohne Parkplatzprobleme
Außerdem hat jeder einzelne Parkplatz ein Lämpchen, das grün oder rot leuchtet, so dass man, wenn man in die Parkhausetage fährt, schon von weitem sieht, wo es sich lohnt, hinzusteuern.  Das gibt’s bestimmt auch in Berlin bald. Aber auf eine andere angenehme Verkehrsbeeinflussung werden wir in Berlin, wegen der Tarife im Öffentlichen Dienst, ewig warten müssen: Heere von miteinander verkabelten Verkehrspolizisten, die sich zu den Rush-Hours auf die Straßen stellen und bei Bedarf Vorfahrtsregeln ändern, Ampelphasen verlängern und sogar spontan die Spuranzahl mithilfe von Plastiktonnen erhöhen oder verringern um Knoten aufzulösen.

Das hilft, die irritierenden Dinge besser zu ertragen: Dass Blinken vor dem Spurwechsel nur einen vagen Wunsch ausdrückt, nur bloße Spielerei ist und nie dazu führen würde, dass die Autos auf der Nebenspur einen Raum öffnen. Wer unbedingt in die Nebenspur will, lässt das Fenster etwas herunter und wedelt mit der Hand, so als würde es den Blinker gar nicht geben. Deshalb blinkt auch niemand. (Die feineren Herrschaften wedeln natürlich nicht mit der Hand, die drängen einfach rüber in die andere Spur.)  Gerät man in einen Stau kann es passieren (ist aber noch nicht), dass ein junger Mann am Fenster klopft und um Herausgabe von Portmonnaie und Handy bittet. Das sollte man dann auch tun. Natürlich hat man für diesen Fall Sachen zum „abgeben“ im Auto, aber einen grässlichen Schrecken bekommt man trotzdem.

Ein unsinniger Trend, der bestimmt auch nach Berlin kommt, ist die dreidimensionale Werbung. Die große Tasse auf der Nespresso-Werbetafel dampft wirklich, das Johnny-Walker-Whiskyglas wird ständig geschüttelt, eine riesige Vinylschallplatte dreht sich ständig auf einer Pepsi-Werbung. Alle Werbeflächen scheinen mit Motoren verbunden zu sein – und das bei Energiepreisen wie in Berlin.
Den Jungen mit den Ziegen interessiert das nicht. Er ist aufgestanden, spricht mit dem Eisschaber, bekommt ein kleines Eis und geht langsam nach Hause.